Wolfgang Thierse im Interview mit der Berliner Zeitung (Ausgabe vom 26. September 2011) zum geplanten Gesetz zur Versetzung früherer Stasi-Mitarbeiter.
Herr Thierse, die Regierung plant ein Gesetz, wonach 47 Mitarbeiter der Stasiunterlagen-Behörde, die früher einmal für die Stasi gearbeitet haben, auch 21 Jahre nach der Wiedervereinigung noch an andere Bundesbehörden versetzt werden können. Das entspricht der Forderung von Behördenchef Roland Jahn, der die Mitarbeiter loswerden will, weil ihr Anblick den Stasi-Opfern nicht zugemutet werden könne. Ist das ein kluges Gesetz?
Die Begegnung mit früheren Stasi-Tätern ist für die Opfer gewiss schwer erträglich. Jetzt soll dieses missliche Personalproblem auf dem Gesetzesweg gelöst werden. Aber ein solches faktisch rückwirkendes Einzelfallgesetz ist rechts- und verfassungspolitisch höchst problematisch. Das Problem kann auch anders gelöst werden, nämlich dadurch, dass die Bundesregierung in nachgeordneten Einrichtungen gleichwertige Arbeitsplätze zur Verfügung stellt.
Es fällt auf, mit welchem Eifer der in der DDR als Bürgerrechtler verfolgte Roland Jahn seit seinem Amtsantritt im März dieses Jahres die Versetzung der betroffenen Mitarbeiter betreibt Was treibt ihn an - Rache, Mitgefühl mit anderen ehemaligen Opfern?
Jahn versteht das offensichtlich als Zeichen an die Opfer, und das ist ja auch gar nicht unsympathisch. Aber das muss in rechtsstaatlich geordneten Bahnen geschehen. Die 47 Mitarbeiter, von denen viele deshalb zur Stasiunterlagen-Behörde geholt wurden, weil man damals meinte, sie zu benötigen, haben sich in den vergangenen 21 Jahren nichts zu Schulden kommen lassen und damit einen Schutz ihres Vertrauens in das Fortbestehen ihrer Arbeitsverhältnisse erworben.
Die Bundesregierung plant darüber hinaus, die Stasi-Überprüfungen im öffentlichen Dienst bis zum Jahr 2019 zu verlängern. Selbst das Strafrecht eines Rechtsstaats ist nicht unbeschränkt nachtragend und bietet für fast alle Delikte irgendwann die Verjährung an. Aber Stasi-Überprüfungen sollen bis zu 30 Jahre nach der Vereinigung noch möglich sein. Dient das wirklich der Befriedung der Gesellschaft?
Hier muss man meines Erachtens differenzieren. Geplant ist zum einen eine zeitliche Verlängerung der Stasi-Überprüfungen, zum anderen eine Erweiterung des davon betroffenen Personenkreises. Der Verlängerung kann ich im Prinzip zustimmen, aber es ist unverhältnismäßig, nach zwanzig Jahren den Kreis der zu überprüfenden Personen auszuweiten.
Was schlagen Sie denn vor?
Vertrauen ist eine wesentliche Grundlage rechtsstaatlicher Demokratie. Aber Vertrauen kann auch enttäuscht werden. Deshalb wäre es besser, Überprüfungen genau im Verdachtsfall vorzusehen. Ein Generalverdacht gegenüber Beschäftigten in den Verwaltungen der neuen Länder verbietet sich schon deshalb, weil die Betroffenen seit zwei Jahrzehnten in dieser Demokratie gelebt und gearbeitet haben. Sie haben es verdient, dass man ihnen vertraut.