Unterschrift Wolfgang Thierse

Gastkommentar Moralische Katastrophe

 
28. April 2010

"Moralische Katastrophe" - Gastkommentar zum Missbrauchsskandal

In der Tageszeitung "Die Welt" erschien am 27. April 2010 ein Kommentar von Wolfgang Thierse zum Umgang mit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche.

 
Wolfgang Thierse

Moralische Katastrophe

Das Bild von Mutter Kirche ist befleckt, sie ist in einer dramatischen Krise. Viele (katholische) Christen sind tief erschüttert und beschämt über das, was jetzt an Verfehlungen und Verbrechen in kirchlichen Einrichtungen sichtbar wird. Es waren Geweihte, die in den Opfern sexueller Gewalt Jesus wieder ans Kreuz geschlagen haben - das ist das eigentlich Erschütternde! Diese Erschütterung sollte die Kirche nicht zu schnell wieder beiseiteschieben. Sie hat jetzt Selbstkritik und Selbsterforschung dringend nötig. Ich wünsche mir sehr, dass meine Kirche für die Gesellschaft ein Beispiel gibt, wie man ehrlich, konsequent, nachdenklich mit einer solchen moralischen Katastrophe umgeht. Ich danke Pater Klaus Mertes dafür, dass er uns den Weg dazu zeigt.

Und wir müssen uns den nicht weiter zu ertragenden Widersprüchen einer Klerikerkirche stellen: Einerseits führt die Papst-Kirche seit Jahrzehnten einen Abwehrkampf gegen die Priesterweihe von "viri probati", gegen die Priesterweihe von Frauen, verficht eine kaum lebbare Sexualmoral, lehnt Empfängnisverhütung ab und ebenso Donum vitae und so weiter und so fort. Andererseits und zugleich deckt dieselbe Kirche jahrzehntelang sexuelle Gewalt, beschweigt und vertuscht Übergriffe von Priestern gegen Kinder, das Kostbarste, was wir haben! Zugleich umgibt sie den Zölibat und die vielfachen Verstöße gegen ihn mit einem unumstößlichen Tabu.

Das Selbstbild einer Klerikerkirche als "societas perfecta", als "ecclesia triumphans" ist wohl endgültig zerfallen. Begreifen wir also - mit strukturellen Konsequenzen - die Kirche so, wie sie das II. Vatikanum beschrieben hat: als wanderndes Volk Gottes. Dann hat die Kirche Zukunft, denn die Frohe Botschaft Gottes und der Dienst der Nächstenliebe werden weiterhin gebraucht - um der Menschen willen!