Wolfgang Thierse zur erschütternden Frühgeschichte des Bundes der Vertriebenen:
Der Historiker Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin hat eine gewichtige Studie vorgelegt. Die Untersuchung mit dem Titel "Funktionäre mit Vergangenheit" widmet sich der Frühgeschichte des Bundes der Vertriebenen (BdV). Sie kommt zu einem deutlichen Ergebnis: Acht von dreizehn Mitgliedern im Gründungspräsidium des BdV hatten vor 1945 der NSDAP angehört - eine übergroße Mehrheit (von mehr als 60 Prozent), die gemessen am Durchschnitt der Parteimitgliedschaft in Deutschland (etwa zehn Prozent) einen ungeheuer hohen Wert darstellt.
Die genauere Betrachtung der Tätigkeiten der Präsidiumsmitglieder während des "Dritten Reiches" zeigt, dass mindestens zwei von ihnen schwer belastet und zwei weitere wahrscheinlich schuldhaft in Kriegsverbrechen verstrickt waren. Nur zwei Mitglieder des Gründungspräsidiums von 1958 gelten als definitiv unbelastet. Was sollte aus diesem Befund gefolgert werden? Drei Forderungen an den BdV.
Erstens: Schluss mit der Selbststilisierung des BdV als einem reinen Opferverband! Diese Lebenslüge des BdV ist nun faktenreich widerlegt. Und die Fakten werfen neue Fragen auf: Ist die verweigerte Aufarbeitung und die starre, bisweilen revanchistische Haltung des BdV darauf zurückzuführen, dass führende Mitglieder ihre eigene Vergangenheit verschleiern mussten und wollten? Gewinnen im BdV nun solche Kräfte an Gewicht und Stimme, die eine nachhaltige und gründliche Aufarbeitung der eigenen Geschichte vorantreiben wollen - mit allen Konsequenzen, die dies für die Traditionspflege, für Strukturen und Persönlichkeiten innerhalb des Verbandes haben kann?
Zweitens: Schluss mit verharmlosenden, relativierenden Bemerkungen! Der BdV gewönne an Glaubwürdigkeit, wenn er auch öffentlich erkennbar Konsequenzen zöge. Die Studie wäre ein guter Anlass, um endlich jene beiden umstrittenen Mitglieder des BdV aus dem Stiftungsrat der "Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung" zurückzuziehen, deretwegen der Zentralrat der Juden und auch die Sinti und Roma dem Gremium fernbleiben.
Drittens: Mut zu weiterer Aufarbeitung! Die geplante Dauerausstellung der "Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung" sieht nicht nur die Darstellung von Ankunft und Integration Vertriebener in der Bundesrepublik vor. Sie wird sich auch mit der Erinnerungskultur befassen. Spätestens in diesem Kapitel muss die problematische Geschichte des BdV thematisiert werden.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat 20 1 1 in ihrem Antrag, personelle Kontinuitäten und Brüche in Bundesministerien und -behörden zu untersuchen, auch Verbände aufgefordert, ihre eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. Für den BdV ist mit der vorliegenden Studie ein erster Schritt getan. Dies ist ausdrücklich zu begrüßen. Nun müssen die nächsten Schritte folgen. Ich hoffe, der BdV bringt endlich den Mut und die Kraft zu selbstkritischer Reflexion auf!
Wolfgang Thierse
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