In der 197. Sitzung vom 17.10.2012 erfolgte die Debatte über den Bericht des Expertenkreises Antisemitismus im Plenum des Deutschen Bundestages.
Wortlaut der Rede von Wolfgang Thierse:
Seit November 2011 liegt nun der erste Antisemitismusbericht dem Bundestag vor. Am 23. Januar 2012 habe ich ihn mit Kollegen aller Fraktionen und Mitgliedern des Expertenkreises der Öffentlichkeit vorgestellt. Heute erst debattieren wir darüber im Bundestag; das ist wahrlich etwas spät. Der Bericht hat größere Aufmerksamkeit als bisher verdient.
Denn es gibt schlechten, bedrückenden aktuellen Anlass: In den letzten Wochen wurde in Berlin ein Rabbiner überfallen. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland wurde bedroht. Das sind nur zwei Beispiele für den alltäglichen Antisemitismus in Deutschland.
Auch im Zusammenhang mit der Beschneidungsdebatte sind antisemitische Untertöne unüberhörbar. Ich zitiere nur einen Satz aus vielen polemischen, ja hass-erfüllten Zuschriften an mich wörtlich: Ich bin kein Rechtsradikaler, aber irgendwann muss mal Schluss sein mit dem ewigen Ducken vor den Juden. – Ein geradezu prototypischer antisemitischer Satz.
Wie viele in Deutschland mögen genau so denken? Seitdem der Bericht vorliegt, wissen wir es: bis zu einem Fünftel der Bevölkerung; ein erschreckender Befund. Der Bericht macht auf beunruhigende Weise deutlich, dass antisemitische Einstellungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen. Erscheinungsformen, Wirkungsweisen und Ausbreitung dieser Menschenfeindlichkeit genau zu kennen und zu beobachten, ist die Vorbedingung für ein energisches und nachhaltiges Handeln. Das macht den Bericht so wichtig. Wir sollten gemeinsam Konsequenzen aus ihm ziehen; denn – auch das will ich, so wie der Herr Minister, betonen – der Kampf gegen Antisemitismus ist nicht zuvörderst und schon gar nicht allein eine Sache der Juden in Deutschland, sondern unsere Sache, die Sache aller Demokraten, aller Anständigen im Lande.
Die Konsequenzen:
Erstens. Wir brauchen Kontinuität und Stetigkeit in Analyse und Berichterstattung; hier besteht, denke ich, Konsens. Der Bundestag hat schon in seiner Entschließung vom 4. November 2008 zum Ausdruck gebracht, dass er sich seiner Verantwortung bewusst ist, jeder Form von Antisemitismus in Deutschland entgegenzuwirken. Regelmäßige Berichte über Antisemitismus in Deutschland erstellen zu lassen, wurde interfraktionell beschlossen. Alle Beteiligten waren sich einig: Eine intensive und vor allem kontinuierliche Berichterstattung ist notwendig. Deshalb sollte das deutsche Parlament in jeder Legislaturperiode über einen solchen Bericht und die Konsequenzen daraus debattieren.
Zweitens. Antisemitismus ist kein gänzlich isolierbares Problem. Er ist eingebettet in und Teil von Rechtsextremismus, Rassismus, Islamismus, Israelfeindschaft, Minderheitenfeindlichkeit. Diesen Zusammenhang gilt es mehr denn je zu beachten.
Sie kennen die Zahlen: 90 Prozent aller antisemitischen Straf- und Gewalttaten werden von Rechtsextremisten begangen. Gerade weil wir das Phänomen, das Problem nicht isolieren können und dürfen, halte ich eine Ausweitung des Fokus auf weitere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – diesen Begriff verwendet Wilhelm Heitmeyer, um die unterschiedlichen Formen von Menschenfeindlichkeit zu erfassen – für dringend erforderlich; denn unterschiedliche Vorurteile und Feindbilder greifen eben ineinander und bilden ein gefährliches Konglomerat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dass genau dies lange nicht erkannt wurde, zeigen auf dramatische Weise auch die Taten des NSU. Wer über Antisemitismus angemessen und folgenreich sprechen und wer handeln will, der darf über die anderen Erscheinungsweisen menschenfeindlichen Verhaltens nicht schweigen.
Drittens. Erkenntnisse allein reichen nicht aus. Sie müssen in Strategien und Aktivitäten zur Überwindung von Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit übersetzt werden. Der wissenschaftlichen Beobachtung müssen aktive Schritte folgen. Erforderlich ist, wie auch von den Experten empfohlen, eine Verstetigung der Bundesprogramme. Momentan sind dies vor allem Modellprojekte. Da aber gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus keine punktuellen, sondern andauernde Probleme und Herausforderungen sind, bedarf es auch keiner nur punktuellen, sondern eben einer dauerhaften Bekämpfung. Nur wenn dauerhafte Programme gefördert werden, kann die Arbeit ohne effi-zienzmindernde Förderlücken gesichert werden. Aus dem Nebeneinander und der zeitlichen Begrenztheit verschiedener Aktionen und Programme, die stets neu initiiert und aufgestellt werden, müssen Institutionen und Initiativen werden, die tatkräftig und verlässlich arbeiten, damit sie nachhaltige Wirkung entfalten können.
Meine Damen und Herren, es ist ein bedauernswerter Zustand, dass nach einer Schreckensmeldung in den Medien die öffentliche Erschütterung zwar groß ist, aber selten lange anhält. Es ist ein bedauernswerter Zustand, dass engagierte Menschen Projekte aufbauen, Netzwerke installieren und dass, kaum haben diese begonnen, zu arbeiten und zu funktionieren, die Förderung ausläuft und die Projekte enden. Diese Zyklen medialer Konjunktur und kurzfristigen staatlichen Engagements gilt es zu durchbrechen.
Über die genaue Form der Unterstützung und auch der Finanzierung der Bundesprogramme – ich persönlich plädiere dafür, dass wir endlich eine Bundesstiftung einrichten – wird man trefflich streiten können. Wichtig aber ist ein Konsens über deren Notwendigkeit. Eine fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe Antisemitismus hat bereits gut zusammenarbeitet und sollte sich jetzt daranmachen, einen gemeinsamen Antrag in dieser Richtung zu erarbeiten.
Der Beschluss von 2008 hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt, wie wir immer wieder neu auf erschreckende Weise sehen.
Er ist zu erneuern und mit den Erkenntnissen dieses Berichts anzureichern und umzusetzen. Wie 2008 ist es auch heute wünschenswert und dringend erforderlich, dass der Bundestag geschlossen Gesicht zeigt, dass gemeinsam eine regelmäßige Berichterstattung über antisemitische und andere Formen der Menschenfeindlichkeit etabliert wird, dass eine Verstetigung der Bundesprogramme festgelegt wird und wir allen Menschen in Deutschland zeigen: Wir nehmen diese moralische und politische Herausforderung ernst. Wir tolerieren antisemitische Menschenfeindlichkeit nicht, und wir stehen dafür nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten ein – nicht punktuell, nicht zeitlich begrenzt, sondern fortwährend.