Unterschrift Wolfgang Thierse

Rede auf dem Berliner Landesmusikschultag

 
26. April 2010

Rede auf dem Berliner Landesmusikschultag

Am 25. April 2010 heilt Wolfgang Thierse auf dem Berliner Landesmusikschultag im Kammermusiksaal der Berliner Philharmoniker ein Grußwort vor den Teilnehmerinnen und Teilnehmern.


 
Rede im Wortlaut

Wir begehen heute den 'Tag der Berliner Musikschulen' in einem Konzertsaal mit internationaler Bedeutung. Vielleicht ist uns dies nicht immer so bewusst, da dieser wunderbar zeitlose Raum für uns Berliner ein völlig selbstverständlicher Teil unseres Stadtlebens ist. Aber auch deutschlandweit und sogar international ist dieser Ort bekannt als Heimatstätte musikalischer Spitzenleistungen und nicht zuletzt auch als das Zuhause des bekanntesten deutschen Orchesters, der Berliner Philharmoniker.

Was uns vielleicht auch nicht bewusst ist: alle, auch der erste Nutzer dieses Gebäudes, Herbert von Karajan, wie auch seine Vorgänger und Nachfolger bis Sir Simon Rattle und dem Orchester
in seiner jetzigen Besetzung: alle haben einmal klein angefangen und waren Musikschüler.

Ihnen allen ist sicher das großartige Projekt 'Rhythm is it' bekannt, dass von hier seinen Ursprung nahm. Bei diesem Projekt geht es in erster Linie natürlich nicht um musikalische Spitzenleistungen, sondern um das, was Menschen möglich ist, die unter nicht so vorteilhaften Bedingungen aufwachsen und vielleicht eine schwierige Kindheit haben. Der Erfolg dieses Projektes wirkt immer noch nach und zeigt auf eindrucksvolle Weise das, was immer wieder in allen möglichen Reden zu diesem Thema beschworen wird: die unglaubliche Kraft von Musik, die Menschen verändern kann und gesellschaftlich spürbar ist.

„Musizieren macht intelligent!“ So hat es der Musikprofessor Hans-Peter Bastian einmal griffig auf den Punkt gebracht. Es kann nicht oft genug betont werden, wie wichtig das Erlernen eines Instruments für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes ist, neben dem Wert an sich. Ganz unterschiedliche Fähigkeiten werden dabei angesprochen und herausgebildet, die für das spätere Leben besonders wichtig sind.

„Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir.“ – Ein Spruch, den sicherlich viele von den Schülern im Publikum nicht mehr hören können. Er trifft aber umso mehr für das Erlernen eines Instrumentes zu. Ich möchte nur eine Eigenschaft herausgreifen – die Disziplin. Jeden Tag üben zu müssen, ist für Kinder oft eine Qual. Das ist oft auch der Grund, warum einige irgendwann aufgeben. Aber sich durchzubeißen und nicht beim kleinsten Hindernis gleich hinzuschmeißen – das ist unglaublich wichtig für das weitere Leben.

Otto Schily, der ehemalige Innenminister, hat einmal formuliert: „Wer Musikschulen schließt, schadet der inneren Sicherheit“. Was er damit meint, ist ganz einfach: Kinder, die ein Instrument lernen, haben weniger Zeit vorm Fernseher zu sitzen. Sie erleben durch ihre eigene Kreativität Erfolge und erhalten Bestätigung. Gemeinsam zu musizieren, macht viel mehr Spaß, als irgendwo sinnlos abzuhängen.

Auf diese Erkenntnis bauen auch Projekte auf wie das von Daniel Barenboim im palästinensischen Ramallah oder das von Gustavo Dudamel in Venezuela.

In Deutschland klafft zwischen diesen einfachen Erkenntnissen und der Realität leider noch eine zu große Lücke. Projekte wie „Jedem Kind ein Instrument“ in NRW, initiiert von der Bundeskulturstiftung, sind ein Schritt in die richtige Richtung. Aber sie reichen eben noch lange nicht aus. Dabei ist es so viel günstiger, Musikschulen und guten Musikunterricht in Kitas und Schulen zu finanzieren, als entstandene Defizite später auszugleichen.

Jetzt möchte ich mich aber auf Berlin konzentrieren und der Frage nachgehen, welchen Herausforderungen der Musikunterricht in Berlin gegenüber steht.

Und zwar – das möchte ich ausdrücklich betonen – trotz der heute unter Beweis gestellten, sehr eindrucksvollen und sehr vielfältigen Arbeit, mit anderen Worten: trotz der zwar immer schwieriger werdenden, aber doch immer noch funktionierenden Strukturen.

Ich möchte die Probleme nicht kleinreden, wenn ich darauf hinweise, dass Berlin in Bezug auf die musikalische Bildung gar nicht so schlecht da steht, wie die Berichterstattung in der Presse vielleicht vermuten lässt: In Berlin gibt es die musikbetonten Grundschulen mit entsprechend zusätzlichen Lehrerstunden. Viele Grundschulen kooperieren mit Musikschulen. Es gibt zwei Musikgymnasien. Besonders Begabte können an UDK und HFM bereits während der Schulzeit studieren.

Berlin hat eine hervorragende Kulturlandschaft, die den Schulen viele Möglichkeiten bieten. Die Orchester und Opern bieten neben einem sehr vielseitigen und künstlerisch vielfältigen Angebot eigene Kinderprogramme an und machen Projekte zusammen mit den Berliner Schulen. Die freie Szene ist international fast einzigartig bunt, unbändig kreativ und zieht internationale Akteure
an.

Beinahe paradiesische Zustände, möchte man meinen. Dem steht gegenüber, dass der Musikunterricht in Berlin – vor allem an den Grundschulen – zu großem Teil fachfremd erteilt wird – es also nicht genügend Musiklehrer gibt. Da stellt sich die Frage: Warum ist das so? Gibt es dafür zu wenige Studienplätze? Ist das Studienfach nicht attraktiv genug? Wenn ich mir die Zahlen und die Situation ansehe, dann muss ich zu dem Schluss kommen, dass der Beruf des Musiklehrers nicht die gesellschaftliche Relevanz und Anerkennung hat, die ihm aufgrund der hohen Qualifikation eigentlich zukäme. Und zwar auch finanziell. Da kennen sich viele hier sicherlich besser aus als ich. Einige von Ihnen haben ein entsprechendes Studium ja durchlaufen. Die Frage ist also, wie kann man den Beruf „Musiklehrer“ attraktiver machen? Sind die beruflichen Aussichten gegenwärtig attraktiv genug, um junge, musikbegeisterte Menschen zu motivieren, ein entsprechendes Studium aufzunehmen? Sind die Hochschulen entsprechend ausgestattet? Werden die richtigen Inhalte gelehrt, die einen guten Musiklehrer ausmachen? Ist das Studium am Alltag in den Schulklassen ausgerichtet?

Daran schließt sich die nächste Frage an: Was wird im Musikunterricht gemacht? Könnte es sein, dass viel zu wenig gesungen wird. Bei internationalen Jugendbegegnungen oder beim Studentenaustausch können wir Deutschen selten gemeinsam ein Lied singen, das alle kennen. Gerade das gemeinsame Singen aber weckt doch den Spaß an der Musik und die Neugier, sich dann vielleicht intensiver damit zu befassen. Vor allem: jeder kann Singen. Von klein auf. Kinder singen vor sich hin, lange bevor sie sprechen. Nur wird das dann im Laufe der weiteren kindlichen Entwicklung oft genug überlagert von anderen, weniger kreativen Möglichkeiten des sich Äußerns.

Die Diskussion um die Stundentafel an den neuen Sekundarschulen hat öffentlich sichtbar gemacht, dass dem Musikunterricht zu wenig Wertschätzung beigemessen wird. Ich bin froh, dass der Protest mit Daniel Barenboim und Sir Simon Rattle berühmte Fürsprecher hat und dadurch eine öffentlichkeitswirksame Debatte angestoßen wurde. Ich fürchte nur, dass der Rückhalt in der Bevölkerung nicht ganz so groß ist. Mein Eindruck war zumindest, dass der Protest bei der geplanten Reduzierung des naturwissenschaftlichen Unterrichts größer war. Senator Jürgen Zöllner verteidigt die Stundentafel damit, dass die Sekundarschulen die Möglichkeit haben, für fünf Stunden selbst festzulegen, welche Fächer unterrichtet werden sollen. Hier sind die Eltern und Schüler, aber auch die Lehrer selbst gefragt, den Musikunterricht einzufordern. Also insbesondere Sie, die Sie den Wert musikalischer Bildung hoch schätzen. Verteidigen Sie dieses hohe Gut und engagieren Sie sich. Geben sie uns Politikern keine Möglichkeit, uns mit Sachzwängen zu entschuldigen!


Die Kooperation von Schulen und Musikschulen ist ein wichtigstes Thema in diesem Zusammenhang. Sie gelingt in den unterschiedlichen Bundesländern unterschiedlich gut. Hier in Berlin hakt es noch an der strukturellen Umsetzung, wie ich höre. Da ist die Senatsverwaltung aufgerufen, alle Hürden, die eine solche Kooperation zur Zeit noch behindern, möglichst schnell abzubauen. Mit der neuen Schulstrukturreform wurden dafür gute Voraussetzungen geschaffen. Diese muss es aber auch für die
Grundschulen geben.

Die neuen Sekundarschulen sind eine Chance für die Musikschulen, die noch nicht offensiv genug genutzt wird. Ich kann die Musikschulleiter nur ermuntern: Nutzen Sie die Gelegenheit und treten Sie an die Schulen heran! Auch Eltern und Schüler sollten über die Schulkonferenzen solche Kooperationen einfordern. Für die Musikschulen ist die Schulreform einerseits eine Chance, andererseits aber auch eine große Herausforderung. Da die Sekundarschulen Ganztagsschulen sind, bleibt natürlich weniger Zeit für den Unterricht in den Musikschulen – aber vielleicht, hoffentlich mehr Zeit für Musik an den Ganztagsschulen.

Kooperationen von Schulen und Musikschulen machen es möglich, jene Kinder zu erreichen, für deren Eltern das Erlernen eines Instrumentes nicht zur Allgemeinbildung gehört. Diese Kinder werden bisher eben leider nicht von den Musikschulen erreicht.

Ich hatte am Mittwoch eine Diskussionsveranstaltung mit Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister in Neukölln. Er hob hervor, dass es an der Musikschule in Neukölln keine Warteliste gibt. In Pankow ist sie besonders lang. Ich kann nicht beurteilen, was die Neuköllner besonders gut machen. Auch in Pankow wurde von den Bezirkspolitikern alles daran gesetzt, dass die Einsparungen bei der Musikschule möglichst gering ausfallen. Was aber natürlich auffällt, ist die Bevölkerungszusammensetzung: In Pankow leben überwiegend so genannte „bildungsnahe“ Familien, die Wert darauf legen, dass ihre Kinder ein Instrument erlernen. In Neukölln eher „bildungsferne“ Familien. Aber gerade für die Kinder aus diesen Familien, wäre Musizieren eine wichtige Alternative zum alltäglichen Fernsehkonsum. Denn auch das hat Buschkowsky eindrücklich illustriert: Jede Schulklasse, die er besucht, fragt er als erstes, wer einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer hat. Da geht bei fast allen Kindern der Arm nach oben.

Bei den beschriebenen Herausforderungen brauchen die Musikschulen natürlich auch Unterstützung, zum einen von den Schulen, aber auch von der Verwaltung, von der Politik und von den Bürgern der Stadt. Daran hab ich manchmal so meine Zweifel, ob die im notwendigen Maße vorhanden ist. Ich mache seit 20 Jahren Politik. Demokratie und Politik ist mühsam und dauert, weil viele Interessen angehört und gegeneinander abgewogen werden müssen. Angesichts der Ungeduld, die durch die Medien verstärkt wird, werde ich nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen. Ausdauer und Geduld sind notwendige demokratische Tugenden!

Aber beim Umgang mit den Berliner Musikschulen bin selbst ich inzwischen ungeduldig. Seit Jahren ist bekannt, dass es strukturelle Unterschiede zwischen den Musikschulen im Ost- und im Westteil der Stadt gibt. Im Osten gibt es noch immer mehr fest angestellte Musikschullehrer.

Seit Jahren ist bekannt, dass die Art der Geldzuweisung an die Bezirke für die Musikschulen eine Abwärtsspirale bedeutet und deren Existenz bedroht. Seit fast einem Jahr liegt der Bericht der Musikschulkommission vor, der die Missstände aufzeigt und den Musikschulen Perspektiven ausweist. Vertreter aus allen Bezirken waren an der Erarbeitung des Berichts beteiligt. Der Bericht stellt also schon lediglich den kleinsten gemeinsamen Nenner dar. Andere Ideen – wie zum Beispiel eine Landesmusikschule oder die Umwandlung in Eigenbetriebe mit größerer wirtschaftlicher Eigenständigkeit – solche Fragen wurden in der Kommission gar nicht erst diskutiert. Trotz dieses kleinen gemeinsamen Nenners gibt es keinerlei Anzeichen, dass der Bericht demnächst umgesetzt würde. Er scheint in irgendeiner Senatsverwaltung bei einem Beamten auf dem Schreibtisch zu liegen und droht dort im Aktenberg allmählich ganz nach unten zu rutschen.

Ich appelliere an die Landes- und Bezirkspolitiker, endlich eine tragfähige Lösung für die Berliner Musikschulen zu finden! Die Vorschläge dazu liegen vor.

Hier geht es auch nicht um Unsummen von Geld. Die Ausgaben pro Platz für Musikschulen stehen in keinem Verhältnis zu den Kosten für Musikhochschulen. Das auszuführen, würde zu weit führen. Ich kann ihnen diesbezüglich die Lektüre der Neuen Musikzeitung vom Februar empfehlen, insbesondere des bemerkenswerten und mutigen Artikels des Kulturdezernenten der Stadt Würzburg, Muchtar Al-Ghusain.

Mein Appell geht nicht nur an die Politik. Ich fordere auch die Musikschullehrer auf, anständig Radau zu machen – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Pankower Musikschule hat vorgemacht, dass man mit lautstarkem Protest einiges erreichen kann. Es geht schließlich auch um Ihre Zukunft und um die Zukunft Ihres Berufsstandes. Überlassen Sie die Diskussion nicht ein paar wenigen und harren weiter der Dinge, die da kommen. Mischen Sie sich ein, suchen Sie sich Verbündete und machen Sie deutlich, dass es so nicht weitergehen kann! Fordern Sie bei den Bezirkspolitikern ein, dass Sie informiert und in Entscheidungen eingebunden werden.

Bei allen beschriebenen Missständen und Herausforderungen: Die Erfolge der Berliner Musikschulen können sich sehen lassen. Dafür sprechen die vielen Preise beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“. Von der Qualität konnte sich heute jeder hier überzeugen. Ich zumindest bin beeindruckt! Den Musikschullehrern gilt mein Dank und meine Hochachtung für ihre engagierte Arbeit unter den nicht einfachen Bedingungen.

Der Musikschultag ist eine sehr gute Gelegenheit zu präsentieren, was an den Berliner Musikschulen geleistet wird. Ich freue mich, dass die Stiftung Berliner Philharmoniker dafür ihre Bühne bereitgestellt hat. Vielleicht kann der Musikschultag ja künftig immer hier stattfinden und diese Art der Kooperation ausgebaut werden. Ich kann Sie dazu nur ermuntern!

Für heute wünsche ich allen Beteiligten noch viel Spaß und den jungen Musikern nicht allzu viel Lampenfieber.