Unterschrift Wolfgang Thierse

Nachruf auf Christa Wolf

 
3. Dezember 2011

Wolfgang Thierse zum Tod von Christa Wolf

Erschienen in der Ausgabe der Sächsichen Zeitung vom 3./4. Dezember 2011

Christa Wolf und ihre Bücher – sie sind seit fünf Jahrzehnten Teil auch meines Lebens, Teil meiner intellektuellen Biographie. Wer in der DDR ein aufmerksamer Zeitgenosse war, kam an dieser Autorin nicht vorbei. Ihre Erzählung „Der geteilte Himmel“ erschien zwei Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer. Pflichtgemäß habe ich als Germanistikstudent dieses Buch gelesen und wenig später die Verfilmung von Konrad Wolf gesehen – die Erinnerungen daran sind eher zwiespältig. Umso größer war dann meine Zustimmung zu „Nachdenken über Christa T.“ (1968)! Diesen Roman haben wir freiwillig gelesen und über ihn abendelang diskutiert: In ihm war „viel von unserem Nachdenken über uns selbst, (…) ohne jede Lüge, ohne jede Feindschaft“, wie es Robert Havemann so trefflich formuliert hat. Die in „Christa T.“ aufscheinende Absage an den staatlich verordneten, schnöden Optimismus entsprach dem Lebensgefühl vieler junger Menschen in der DDR, die Melancholie des Buches hatte etwas Befreiendes.

Christa Wolfs Biographie und ihr künstlerisches Werk sind geprägt durch die wechselvolle und widersprüchliche Geschichte des 20. Jahrhunderts, durch die unmittelbare Erfahrung von Krieg und Flucht, von hehren Glücksversprechen und hohlem Pathos, von hoffnungsvollen Aufbrüchen und herben Enttäuschungen. Mit all diesen Erfahrungen, die in der deutschen Teilung versteinerte Gegenwärtigkeit waren, hat die Autorin sich auseinandergesetzt – kritisch und selbstkritisch, zumeist schonungslos und immer unverwechselbar in Stil und Sprache.

Als vordringliche Aufgabe von Literatur beschrieb Christa Wolf die „Erkundung der blinden Flecke der Vergangenheit“: „Das Vergangene ist nicht tot; es nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd“, lauteten die ersten Sätze ihres Romans „Kindheitsmuster“ (1976) – einem stark autobiographischen Werk, das den Prägungen durch den Alltag im faschistischen Deutschland und seinen möglichen Fortwirkungen nachspürte. Christa Wolfs Bücher ließen sich lesen als störrische, welthaltige Manifeste gegen das individuelle wie gesellschaftliche Vergessen und Verdrängen, das machte sie so interessant und wichtig, das unterschied sie von so vielen anderen. Man wartete regelrecht auf das nächste Christa-Wolf-Buch, weil sicher war, es würde Diskussionsstoff bieten und Anstöße für kritische Debatten, die in der DDR sonst kaum öffentlich möglich waren.

Texte wie „Kindheitsmuster“,  „Kein Ort. Nirgends“ (1979), „Kassandra. Erzählung“ (1983) erweiterten den kulturellen und historischen Horizont – gegen die bedrückende Enge der DDR. Christa Wolf war für viele ihrer ostdeutschen Leserinnen und Leser eine imaginäre Gesprächspartnerin, die sich biographisch glaubhaft den verordneten Gewissheiten, den einfachen Antworten und Urteilen verweigerte. Und genau daraus erwuchs ihre moralische Autorität. Ihre leise, beharrliche Wahrhaftigkeit war Einspruch und Widerspruch gegen ein System ideologischer Verkommenheit. Gemeinsam mit ihrem Mann schützte, ermutigte und förderte Christa Wolf unangepasste Künstlerinnen und Künstler, junge Autorinnen und Autoren – daran wird viel zu selten erinnert. 1976 zählte sie zu den ersten Unterzeichnern des offenen Briefes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermann aus der DDR. Dafür wurde sie aus dem Vorstand der Berliner Sektion des Schriftstellerverbandes der DDR ausgeschlossen und erhielt ein Parteiverfahren.

Später befragt, warum sie denn die DDR nicht verlassen habe, antwortete Christa Wolf, sie habe bis zuletzt das Gefühl gehabt, „gebraucht zu werden“. Ja, ihre literarischen Texte, Aufsätze und Essays, ihr Zuspruch, ihr Vermögen, andere zu ermutigen, wurden gebraucht und geschätzt.

Zu den Akteuren der Friedliche Revolution zählte auch Christa Wolf. Sie hielt auf der größten Demonstration, die es in jenen Wochen gegeben hat, eine Rede – am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz in Berlin. Wie andere auch, glaubte sie zu jener Zeit noch an die Möglichkeit einer Reform des DDR-Sozialismus unter anderer Führung („also träumen wir mit hellwacher Vernunft“). Unmittelbar nach der Rede erlitt sie einen Herzanfall.

Als befremdlich empfand ich es, mit welcher Heftigkeit Christa Wolf in den Folgejahren angefeindet wurde – nicht selten von jenen West-Kritikern und -Medien, die sie in früheren Jahren hochgejubelt hatten (als Ikone gegen die SED). Nun wurde ihr übelgenommen, dass sie den Kommunismus nicht entschieden, nicht radikal genug kritisiert hatte. Als dann 1992 eine schmale IM-Akte von Christa Wolf aus dem Jahre 1959 auftauchte, an die sie sich selbst nicht erinnern konnte, stellten manche Kritiker ihr gesamtes literarisches Werk und ihre moralische Autorität in Frage. Dass Christa und Gerhard Wolf vom Ministerium für Staatssicherheit über Jahrzehnte operativ „bearbeitet“, abgehört, bespitzelt und permanent überwacht wurden, spielte kaum noch eine Rolle. (Die Opfer-Akte der Wolfs umfasst ein Konvolut von 42 Bänden!)

Wie es ihre Art war, stellte sich Christa Wolf der vielstimmigen, zum Teil schrillen Kritik und thematisierte das eigene Verhalten – in ihrem großartigen Spätwerk „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“, ihrem letzten Roman, erschienen 2010. Die Achtzigjährige begab sich nochmals auf Spurensuche durchs eigene Leben, durchs 20. Jahrhundert, durch drei verschiedene Systeme. Ihr Buch ist ein Werk schmerzlicher, bohrender Selbstbefragung, eine Inventur eigener Erfahrungen, der Entstehung und Veränderung politischer und weltanschaulicher Überzeugungen, der Erosion eines ehedem so klaren Weltbildes. Das Besondere, das Außerordentliche dieses Romans besteht im Vermögen der Autorin, Autobiographie und Zeitgeschichte, Individuelles und Exemplarisches ineinander zu verweben. Es ist ein Buch des Abschieds, das das eigene Leben, selbstverständlich, und auch, weniger selbstverständlich, den erlebten Realsozialismus ernst nimmt.

Mir fiel der Abschied von der DDR leicht, aber ich habe dennoch Verständnis und Respekt vor denen, die sich am Ende der DDR abarbeiteten – weil sie mit diesem Gesellschaftsversuch einmal moralisch und existenziell verbunden waren. Christa Wolf konnte nicht leichtfüßig Abschied nehmen.

Nun müssen wir, ihre Leser und Zeitgenossen, Abschied nehmen – von einer großen Schriftstellerin, einer nicht zu ersetzenden Gesprächspartnerin und einer menschenfreundlichen Gefährtin unseres, meines Lebens.

Viele Jahre wurde spekuliert, ob Christa Wolf den Literatur-Nobelpreis erhalten werde, sie hätte ihn verdient gehabt!