In der Demokratie geht es nicht nur um Mehrheiten, um Sieger
und Besiegte, sondern um den Ausgleich von Interessen.
Ein Plädoyer für die repräsentative Demokratie
Ein Beitrag von Wolfgang Thierse, veröffentlicht in: Publik Forum Nr. 7, 5. April 2019
Nichts ist einfacher und befriedigender, nichts gelingt enthusiastischer als ein Plädoyer
für mehr direkte Demokratie – vor allem dann, wenn man sich nicht auf deren
Voraussetzungen und Folgen einlassen muss. Und ich bin ja durchaus auch dafür.
Schließlich gibt es wirklich Anlass, darüber nachzudenken, wie unsere so
selbstverständlich gewordene, aber trotzdem unter Wellen von Misstimmungen
leidende repräsentative Demokratie verlebendigt, wie ihre Glaubwürdigkeit vermehrt,
ihre Legitimität gestärkt werden kann. Die Demokratie als politische Lebensform der
Freiheit in Momenten ihrer Gefährdung zu verteidigen, muss ja nicht heißen, ihren
Status Quo in allen seinen Facetten und um jeden Preis zu verteidigen. Im Gegenteil,
es ist vernünftig, alle Formen der Öffnung der Politik, der Erweiterung der
Teilhabemöglichkeiten am politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess
zu prüfen und zu nutzen – allerdings ohne allzu sehr den Suggestionen direkter
Demokratie, der Faszination plebiszitärer Demokratie zu erliegen. (Wir sollten auch
den Verheißungen einer „Internet-Demokratie“ misstrauen. Aber da ist wohl
inzwischen deutliche Ernüchterung eingetreten.)
Die repräsentative Demokratie ist unübersehbar unter Druck geraten. Die Zustimmung
sinkt: Auf die Frage, ob die Demokratie die beste der denkbaren Staatsformen sei,
haben zuletzt im Westen Deutschlands 77 % mit Ja geantwortet, im Osten nur 42 %.
Das ist alarmierend. Angesichts der Gleichzeitigkeit verschiedener dramatischer
Veränderungen und beunruhigenden Entwicklungen – von der Globalisierung über die
digitale Transformation, die drohende Klimakatastrophe, die Flüchtlingsbewegungen,
die Verschärfung sozialer Gegensätze und gewaltsamer Konflikte (Terrorismus) bis
zur Wahrnehmung einer „Welt in Unordnung“ – nehmen Abstiegsängste und
Zukunftsunsicherheiten zu. Und wächst das Bedürfnis nach den einfachen, klaren,
schnellen Antworten und Lösungen, ja nach Erlösung von der Problemlast und auch
von der als Schwäche empfundenen Langsamkeit demokratischer Politik. Das ist die
Stunde der Populisten, schauen wir nur ringsum in Europa und in der Welt.
Der Ruf nach mehr direkter Demokratie ist populär und wird auch von einer Mehrheit
in Deutschland unterstützt. Es ist deshalb nicht wirklich überraschend, dass die
Forderung danach gegenwärtig vor allem von (Rechts-) Populisten erhoben wird. Das
macht sie noch nicht falsch, sollte aber doch ein wenig Skepsis erzeugen: Wer
Volksabstimmungen und –Entscheide wünscht, sollte jedenfalls etwas über deren
Gefahrenpotential wissen, sollte die Gefährdungen mit bedenken.
Schauen wir genauer hin. Sind Plebiszite wirklich die Lösung unserer gegenwärtigen
Demokratie? Öffnen sie tatsächlich „die Ohren des politischen Personals“, machen sie
Politik erkennbar „durchlässiger für die vielfältigen Interessen in der Bevölkerung“?
Nun gibt es in Bundesländern und Kommunen schon längst eine Praxis direkter
Demokratie, sie hat die Demokratie-Stimmung dort nicht sichtbar verbessert. Als
„Vitaminstoß“ für die Parlamente hat sie sich nicht erwiesen. Aber sie macht die
Probleme und Gefährdungen deutlich: Die meisten politischen Themen und Probleme
lassen sich nicht ohne erhebliche Risiken auf Ja-Nein-Entscheidungsfragen reduzieren.
Volksentscheide zielen nicht auf Kompromiss und Ausgleich, sondern erzeugen
unvermeidlich Sieger und Verlierer und damit auch bittere Enttäuschungen. In den
meisten Fällen ist die Beteiligung an ihnen geringer als bei regulären Wahlen, ihre
Legitimationsbasis ist also niedriger. Sie sind in erheblichem Maße der Beeinflussung
durch finanz- und medienstarke Lobby- oder Meinungsgruppen ausgesetzt. Sie
befördern eher eine Art von Aktivistendemokratie und weniger die politische
Sichtbarkeit der tatsächlichen Interessenvielfalt unter den Bürgern.
In Berlin – um nur ein Beispiel zu nennen – wurde ein Volksentscheid über die
Zukunft des riesigen Areals des ehemaligen innerstädtischen Flughafens Tempelhof
durchgeführt. Die Alternative war: Gänzliches Freihalten oder Zulassung einer
Randbebauung für Wohnungen und Gewerbe (20 % der Fläche). Die Mehrheit hat sich
für die große, geschützte grüne Spielwiese entschieden. Man kann das verstehen. Aber
wo neue Wohnungen (die Berlin jährlich zehntausendfach braucht) gebaut werden,
darum soll sich gefälligst die Politik kümmern. Das ist ein instruktives Beispiel dafür,
dass direkte Demokratie nicht unbedingt neue oder mehr Bürgerverantwortlichkeit
erzeugt. (Und nicht viel mehr oft dem St. Florians-Prinzip folgt).
Und das andere Beispiel direkter Demokratie, das gegenwärtig ganz Europa bewegt,
ist der Brexit: Die EU-Gegner gewinnen mit Lügen, Desinformationen, dem Schüren
nationaler Gefühle ein Referendum, das eine komplexe Frage – wie Großbritannien
mit und in Europa leben soll – auf ein einfaches Ja oder Nein reduziert zur Abstimmung stellt,
ohne dass die komplexen Folgen mit bedacht werden können. Ein
Volksentscheid als Akt von Verantwortungslosigkeit einer Regierung! So knapp das
Ergebnis, so gespalten das Land, so unübersehbar folgenreich für die europäische
Politik. Und so wenig ein Beleg dafür, dass direkte Demokratie die Demokratiekrise
heilen kann, im Gegenteil.
Die repräsentative Demokratie ist und bleibt das stabilere System und dient dem
Gemeinwohl besser – weil sie (zumal in einem föderalen System, in einer
Mehrebenen-Demokratie – die Mehrheiten einem Verständigungs- bzw. Austausch-
und Aushandlungsgebot mit den Minderheiten im parlamentarischen Prozess
unterwirft, sie in einen diskursiven Prozess zwingt. Denn Demokratie ist nicht einfach
– wie ihr verbreitetes Missverständnis meint – Volksherrschaft bzw. Herrschaft der
Mehrheit. Nicht Mehrheit oder Volkes Stimme begründen schon die Legitimität einer
demokratischen Entscheidung, sondern ganz wesentlich der diskursive
Entscheidungsweg, auf dem sie zustande kommt. Die Art, wie die Bürger ihre
Meinungsverschiedenheiten und Interessenskonflikte austragen, bestimmt die Qualität
der politischen Kultur der Demokratie. So sehr Streit ein Strukturprinzip von
Demokratie ist, so sehr gilt es, Mäßigung, Kompromiss- und Konsens-Suche als
notwendige Elemente demokratischer Kultur zu begreifen und die Würde des
demokratischen Kompromisses zu verteidigen (gegen alle dezisionistischen
Anwandlungen)!
Es sind (vor allem, also nicht allein) die Parteien, die die wichtigen Akteure dieses
diskursiven politischen Prozesses sind (und die Parlamente die Orte dafür). Parteien
sind der Transmissionsriemen zwischen Zivilgesellschaft und Politik, zwischen
Regierten und Regierungen. Sie zu verachten, heißt demokratische Politik zu
verachten. Allerdings sind sie keine demokratischen Monopolisten, dürfen es nicht
sein! (Aber Misstrauen ist angebracht, wenn Bewegungen an die Stelle der Parteien
treten sollen.)
Warum also nicht in Parteien gehen, sich dauerhaft in demokratischen Organisationen
und Institutionen engagieren? Um dort nicht nur mitzuentscheiden, sondern an der
Umsetzung, an der Verwirklichung der Entscheidungen mitzuwirken! Das ist gewiss
mühevoller als die kraftvolle Abgabe seiner Stimme bei einem Volksentscheid. In der
alltäglichen Demokratie geht es eben nicht nur um ein Ja oder Nein, sondern um das
Aushandeln von Konsensen oder Kompromissen. Geht es nicht um Sieger oder
Verlierer, sondern um den möglichen und erwünschten Ausgleich von Interessen –
also um verantwortliche Bürgerschaft. Gewählte sind nicht Erwählte, Abgeordnete
(und ihre Parteien) müssen sich alle paar Jahre einer Wahl, also einer kritischen
Bewertung ihres Tuns (oder Nichttuns) stellen. Sie werden zur Verantwortung
gezogen. Das hilft gegen „Selbstbezogenheit“.
Wir brauchen stärkere Parlamente auf allen Ebenen. Wir brauchen mehr politische
engagierte Bürger in den Parteien und demokratischen Organisationen. Wir brauchen
wache Bürger, die mit Initiativen und auch Volksbegehren die parlamentarische
Demokratie stärken und verlebendigen. Wache Bürger, die die Gewählten in den
Parlamenten – auch zwischen den Wahlen – mit ihren Meinungen, Interessen,
Anliegen und Vorschlägen „behelligen“ und so aktiv unterstützen. Plebiszitäre
Instrumente sollten die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern ergänzen.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger.