Beitrag von Wolfgang Thierse für die Sächsische Zeitung zu den Protesten gegen Neonaziaufmärsche in Dresden - erschienen am 7. Februar 2012.
Wer im letzten Februar in Dresden war, um – gegen den Aufmarsch der Rechtsextremen – für Demokratie und Menschenrechte zu demonstrieren, der sah sich vor ein Problem gestellt: Er sollte seinen Protest in kilometerweiter Entfernung zu den Naziaufmärschen kundtun. Die Innenstadt war abgesperrt, Anreisende in Bussen wurden vor der Stadt angehalten und mussten den weiteren Weg zu Fuß zurücklegen. Eine Kundgebung des DGB vor dessen eigenem Gewerkschaftshauswurde wurde kurzfristig verboten. Mahnwachen der Kirchen in der Dresdner Innenstadt waren schlecht besucht, denn viele kamen aufgrund der Absperrungen gar nicht erst hin.
Begründet wurden diese Maßnahmen mit der angeblichen Notwendigkeit einer „weiträumigen Trennung“ von Demonstranten und Gegendemonstranten. Die Behörden erhoben diesen polizeilichen Ansatz gar zum „Trennungsgebot“. Damit wurde suggeriert, die Trennung der Demonstrationen sei wichtiger als die Demonstrationsfreiheit. Doch das Gegenteil ist der Fall: Polizeimaßnahmen sind am Grundrecht der Demonstrationsfreiheit zu messen – und nicht umgekehrt die Demonstrationsfreiheit an polizeitaktischen Erwägungen.
Was ist also Bürgerrecht und Bürgerpflicht? Das Bundesverfassungsgericht hat die Demonstrationsfreiheit stets als einen Pfeiler der Demokratie begriffen und klargestellt, dass sie nicht nur das Recht zur öffentlichen Versammlung beinhaltet, sondern auch ein Recht auf Protest in Hör- und Sichtweite. Und es hat klargestellt: Auch Sitzblockaden als besondere Form der Meinungskundgebung sind nach dem Grundgesetz zulässig und geschützt.
Dennoch gibt es immer wieder Versuche, friedlichen Protest und gewaltfreie Blockaden zu kriminalisieren und als linksextremistisch zu diskreditieren. Wer alles kriminell sein müsste, nur weil er zu demokratischem Engagement gegen Neonazis aufruft, das ist geradezu absurd: Gewerkschafter, Abgeordnete, Bischöfe und Pfarrer, verschiedene Initiativen. Gewaltfreier, ziviler Ungehorsam darf aber in einer rechtsstaatlichen Demokratie nicht kriminalisiert werden!
Kriminalisierungsversuche haben es vielen Demokraten in den vergangenen Jahren schwergemacht, auf die Straße zu gehen und gegen die missbräuchliche Aneignung ihres Gedenkens durch die Neonazis zu protestieren. Das hat dazu beigetragen, dass die Neonazis sich in Dresden ungestört ausbreiten konnten und ihre Aufmärsche innerhalb weniger Jahre mit bis zu 8.000 Teilnehmern zum größten Neonazitreffen in ganz Europa wurden.
Als Demokraten dürfen wir nicht tatenlos zusehen, wenn Rechtsextreme durch unsere Städte marschieren. Wir dürfen ihnen nicht schweigend und widerspruchslos den öffentlichen Raum überlassen. Unsere Straßen und Plätze sollen keine Zonen des Gebrülls, der Gewalt und des Hasses sein, sondern demokratische Räume der Vielfalt und der Friedfertigkeit. Dafür einzutreten, verpflichtet der politische Anstand. Nicht erst seit Aufdeckung der Mordtaten der sog. Zwickauer Terrorzelle ist klar, dass der Kampf gegen Rechtsextremismus nicht allein Sache der staatlichen Institutionen sein darf, sondern Aufgabe aller Demokraten ist. Wir sollten uns dabei der entschlossenen Friedfertigkeit erinnern, die unsere Demokratie-Revolution 1989 geprägt und erfolgreich gemacht hat.