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Krisenzeiten – so ist die geschichtliche Erfahrung – sind Zeiten der Entscheidung und der Unterscheidung der Geister. Das gilt offensichtlich auch für die gegenwärtige Pandemie-Krise.
Vor 10 Wochen hat unser höchstes Gericht ein Urteil gefällt, nach dem die freie Entscheidung zum Suizid ein Grundrecht sei und dass niemand einen Menschen am Vollzug seines eigenen Todes hindern dürfe. Die Verfügung über das eigene Leben, seine gezielte Vernichtung eingeschlossen, sei Teil der grundrechtlich geschützten Handlungsfreiheit. Frei nach Schillers „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“.
In den vergangenen Wochen der Corona-Pandemie haben wir dagegen – zu unser aller Glück – erlebt, wie die Verantwortlichen nach der Maxime handelten, alles müsse so eingerichtet sein, dass der Tod von Menschen verhindert werden kann. Dass der Staat seiner Pflicht zum Schutz des Lebens gerade in dieser Extremsituation nachgekommen ist, das entspricht erkennbar auch der Erwartung der Bürger, ja es ist sogar ihr Anspruch an den Staat – wenn dieser denn Rechts- und Sozialstaat sein soll und bleiben will.
Nun aber hat nach Wochen bedrängender Einschränkungen und sich verstärkender Ungeduld eine, vielleicht unvermeidliche, Debatte darüber eingesetzt, ob dem menschlichen Leben absoluter Wert zukommen müsse. Diese Debatte ist von Wolfgang Schäuble eröffnet und von Boris Palmer radikalisiert worden. Bisher galt – nach der moralischen Katastrophe der Nazi-Ideologie „vom unwerten Leben“ – der Schutz des Lebens für alle Menschen gleichermaßen. Menschenleben gegeneinander abzuwägen, das war, dank Immanuel Kant, in unserem Rechtsstaat nicht legitim. Der Grünen-Politiker Palmer meinte nun, den Aufwand für die Gesundheit der Alten, der größten „Risiko-Gruppe“, infrage stellen zu dürfen. Menschenleben mit geringerer Lebenserwartung hätten geringeren Wert als solches mit höherer Lebenserwartung. So musste man Palmers Bemerkung ja verstehen: „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“. Soll man das nun für den Ausdruck eines sich inzwischen breitmachenden ethischen Utilitarismus halten oder bloß für eine zynische Provokation oder doch eher für sozialdarwinistischen Neoliberalismus?
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist der wichtigste und schlechthin fundamentale Satz unseres Grundgesetzes. Dieser Grundwert gilt für alle Menschen in gleicher Weise. Die elementarste Voraussetzung dafür aber ist das Recht auf Leben. Denn Menschenwürde kann nur haben, wer das Recht auf Leben erfahren hat und erfährt – egal ob jung oder alt, gesund oder krank, risikoarm oder risikoreich. Das Grundgesetz formuliert in seinen Artikeln 1 und 2 nicht ein Gegeneinander, wie Schäuble es nahelegt, sondern einen Zusammenhang. Ihn aufzulösen halte ich für gefährlich. Führt dies doch zu Unterscheidungen, zu „Selektion“ zwischen mehr oder weniger lebenswertem, also schützenswertem Leben. Das darf dem Staat nicht zustehen, gerade auch dann und weil seine Handlungs- und Schutzmöglichkeiten begrenzt sind und bleiben. Der Staat hat nicht das Recht, das Leben des einen Menschen mit dem Leben eines anderen zu verrechnen.
Wenn aber vom Schutz des Lebensrechts die Rede ist, dann ist damit nicht bloß das nackte Leben gemeint. Leben ist ja mehr als Überleben. Es geht – eben – um menschenwürdiges Leben, um lebbares Leben. Gesundheit ist gewiss ein Kriterium für die Qualität von Leben, aber nicht das einzige. Leben meint menschliche Begegnungen und Beziehungen, meint die Erfahrung von Liebe und Geliebtwerden, meint Kommunikation und Kultur, meint Existenz in Freiheit und Selbstverantwortung, in erträglicher ökonomischer und sozialer Sicherheit. Und es ist mehr als die beiden Rollen, die Menschen auf dem Markt spielen, nämlich die Rollen als Arbeitskraft und Konsument. Es schließt Krankheit und Leid ein. Und sogar der Tod ist ein Teil des Lebens, insofern wir unvermeidlich auf ihn hinleben.
Hoffentlich ist die Zeit bald vorüber, in der uns die stündlichen Nachrichten den Menschen als des Menschen Virus erscheinen lassen. Vergessen wir aber nicht die erfahrene vielfache Solidarität, die keinen Unterschied macht im Lebensrecht von Menschen. Die ein großes Lebensbekenntnis ist! Das Leben zählt aus verpflichtenden Gründen zu den unveräußerlichen Menschenrechten, die zu achten wir als Menschen einander und auch uns selbst schulden.
Vielleicht ist das der Sinn der Pandemie-Krise: die Stärkung des Lebenssinns, die Wiederentdeckung des Wertes des Lebens, weil es – angesichts seiner massenhaft erlebten Gefährdung – eben nicht selbstverständlich ist! Der Staat darf seine elementarste Pflicht nicht verletzen – das Leben seiner Bürger zu schützen. Und die Bürger müssen neu lernen – verantwortlich zu leben, also mit dem Blick auf das Leben der Anderen und das Leben in der Zukunft. Das könnte dann wirklich eine „neue Normalität“ sein!