Lieber Alexander Götz!
Ich möchte Dir als Kreisvorsitzendem mitteilen, dass ich mich zur nächsten Bundestagswahl nicht wieder um eine Kandidatur bemühen werde.
Das tue ich sehr ungern, denn ich bin gern, ja mit Leidenschaft Parlamentarier – im kommenden Herbst werde ich es 24 Jahre gewesen sein! In dieser Zeit habe ich wichtige Aufgaben und Funktionen übernehmen dürfen: In der frei gewählten Volkskammer des Jahres 1990 war ich zunächst stellvertretender Vorsitzender, dann Vorsitzender der SPD-Fraktion; ich habe als Parteivorsitzender die SPD der DDR in die Parteivereinigung im September 1990 geführt und war dann 15 Jahre stellvertretender Parteivorsitzender der SPD; im Bundestag hatte ich 8 Jahre die Funktion des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden inne, war 7 Jahre Bundestagspräsident und werde mit Ende dieser Legislaturperiode 8 Jahre Vizepräsident des Deutschen Parlaments gewesen sein.
Ich habe mich mit vielen Themen befassen können, war an wichtigen Entscheidungen beteiligt, war eine, glaube ich, vernehmbare Stimme für Ostdeutschland und Berlin – von der Umzugsentscheidung für Berlin im Jahre 1991, über den Aufbau/Solidarpakt Ost bis zum Humboldtforum …
Ich bin einer der Autoren des Hamburger Grundsatzprogramms unserer Partei, war 16 Jahre lang Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD und bin bis heute Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie und auch der Willy-Brandt-Stiftung. Darüber hinaus habe ich viele ehrenamtliche Aufgaben übernommen, weil es mir immer wichtig war, über die eigene Partei hinaus in die Öffentlichkeit zu wirken und möglichst viele Menschen zu erreichen. Diesem Ziel diente auch meine Wahlkreisarbeit: Bürgersprechstunden, Wahlkreistage, öffentliche Veranstaltungen, seit über 10 Jahren auch meine Gesprächsreihe „Thierse trifft“ …
All dies nicht fortsetzen zu sollen, fällt mir schwer. Das ist hoffentlich verständlich.
Aber ich weiß auch, dass ich im Herbst 2013 siebzig Jahre alt werde. Vor allem weiß ich auch, dass sich schlecht erfolgreich Wahlkampf machen lässt, wenn sich einige, wichtige Mitglieder des Kreisvorstandes bereits seit längerem auf einen Nachfolger verständigt haben, weil „nun endlich auch mal jemand anderes dran sei …“
Ich wünsche mir sehr, dass die SPD unseren Wahlkreis wieder direkt gewinnt. Das ist durchaus möglich mit einem überzeugenden Kandidaten, denn bei der kommenden Bundestagswahl haben wir nicht die Hypothek einer großen Koalition zu tragen wie vor 4 Jahren. (Damals hat es leider nicht gereicht, dass ich mit 27,4 % der Erstimmen 50 % mehr geholt habe, als die SPD mit 18,2 % an Zweitstimmen in unserem Wahlkreis erreicht hat.)
Wie ich höre, soll eine Mitglieder-Vollversammlung die Kandidatenentscheidung treffen. Das halte ich für eine vernünftige Idee und hoffe auf eine gute Entscheidung!
Mit freundlichem Gruß
Wolfgang Thierse
P.S. Ich bitte Dich sehr, diesen Brief allen Mitgliedern zur Kenntnis zu geben.