Gottlob ist das Schadowhaus in Berlin-Mitte kein Symbol für die deutsche Einheit. Der Bundestag hat das einzige erhaltene klassizistische Gebäude der im 17. Jahrhundert angelegten Dorotheenvorstadt 2013 gekauft und für 17 Millionen Euro denkmalgerecht sanieren lassen. Nun zeigt Wolfgang Thierse auf die vielen Risse im Büro. Der Grund: Nebenan wird abgerissen und neu gebaut. Im Schadowhaus hat der 76 Ex-Bundestagspräsident Thierse sein Büro. Die zeitgemäße Begrüßung per Ellbogen lehnt der 76jährige ab. Das erinnere ihn zu sehr an die Ellbogengesellschaft, sagt er. Dann legt er die Hand aufs Herz und meint, eine Verbeugung voreinander könne nicht schaden. „Nicht zu tief. Es soll ja nicht devot aussehen.“ Dem schließt sich ein Gespräch über deutsche Absurditäten, über den Mangel an Begeisterung für die Einheit und über die Zukunft an
Interviewpartner André Bochow
Herr Thierse, würden Sie sagen, dass Corona die Deutschen eint?
Zunächst einmal finde ich es erstaunlich, dass 80 Prozent der Bevölkerung mit der Politik der Regierung einverstanden sind. Das habe ich in meinen 30 Jahren in der Politik noch nie erlebt. Außerdem nehmen fast alle von uns ihre eigene Verletzlichkeit mehr wahr als zuvor, was die meisten zu vernünftigem, solidarischem Verhalten bringt.
Es gibt eine Minderheit, die das ganz anders sieht.
Ja. Und das spaltet die Gesellschaft. Aber es ist eben eindeutig eine Minderheit, die Freiheit als rücksichtslosen Egoismus betrachtet. Eine andere Minderheit lebt in einer verschwörungs-mythologischen Welt, in der Fakten einfach bestritten werden.
Diese Spaltung hat aber mit Ost und West nichts zu tun. Oder?
Nein. Ganz und gar nicht.
Stört es Sie, dass schon jetzt kaum noch jemand erklären kann, warum der 3. Oktober der Tag der deutschen Einheit ist?
Das ist ein gewisses Manko dieses Datums. Natürlich wäre der 9. Oktober der bessere Tag gewesen, weil sich mit ihm eindrucksvolle Bilder verbinden.
Sie meinen den 9. November.
Keineswegs. Am 9. Oktober war der Höhepunkt der friedlichen Revolution in Leipzig. Da fiel die Entscheidung. Alles war für Blutvergießen und Verhaftungen vorbereitet. Und dann kam kein Befehl aus Moskau und damit auch keiner aus Berlin. Das Wunder von Leipzig! Wir sollten nun aber nicht dauerhaft mit dem 3. Oktober hadern, sondern das Glück des Freiheitsgewinns in Ostdeutschland und die Einheit feiern.
Seit 47 Jahren wohnen Sie in Berlin am Kollwitzplatz. Sie haben einmal gesagt, dass Sie als ostdeutscher Indigener unter Artenschutz gestellt werden müssten…
…eine selbstironische Bezeichnung. Da, wo ich wohne, hat ein fast vollständiger Bevölkerungswechsel stattgefunden. Wir sind übriggeblieben. Darauf wollte ich hinweisen.
Ist der Kollwitzplatz, ein Beispiel für misslungene Einheit?
Nein, das würde ich nicht sagen. Diesen citynahen Kiez Berlins hätte man doch nicht unter eine Käseglocke stellen können, um daraus ein „Museum des real-sozialistischen Verfalls“ zu machen. Aber natürlich sind die Veränderungen mit Mieterhöhungen und Verdrängung einhergegangen. Auch positive Veränderungen haben meist eine schmerzliche Kehrseite.
Sie haben sich sehr für das Freiheits- und Einheitsdenkmal in Berlin eingesetzt. Seit Mai wird es gebaut. Sind Sie zufrieden?
Ja, natürlich. Aber es war eine verflucht zähe Angelegenheit. Wir wollten ein Symbol für das glücklichste Ereignis der deutschen Geschichte und dann wurde gefeilscht, getrickst und am Ende mussten auch noch Fledermäuse dafür herhalten, den Bau des Denkmals zu verzögern.
Ein Argument gegen das Denkmal war, dass es das Brandenburger Tor gebe.
Das Brandenburger Tor erinnert an die deutsche Spaltung und ist insofern auch ein Symbol der Einheit. Aber es war kein Ort der friedlichen Revolution. Auf das Brandenburger Tor zu verweisen war der Versuch, uns Ostdeutsche mit etwas abzufinden, was es schon seit über 200 Jahren gibt.
Das neue Denkmal wird vor dem wiedererrichteten Berliner Schloss stehen. Wie passen diese nachgebaute Trutzburg der preußischen Monarchie und das Freiheitsdenkmal zusammen?
Das ist ein negativer Mythos. Das Schloss war lange vor seiner Zerstörung ein bürgerlicher, offener Ort. Die preußischen Könige und Kaiser residierten im Wesentlichen in Potsdam und anderswo. Und nun wird aus dem Schloss das Humboldt-Forum. Dazu passt das Freiheits- und Einheitsdenkmal sehr gut.
Früher konnte man Ostdeutsche unter anderem daran erkennen, dass sie wussten, was ein Hühnergott ist. Heute verschwinden solche Unterschiede allmählich.
Das stimmt. Andere sind leider geblieben. Aber es gibt immer noch die Neigung im Westen, die deutsche Nachkriegsgeschichte allein durch die westdeutsche Brille zu sehen. Und auf der anderen Seite fehlt es im Osten vielen Zeitgenossen an positiver Selbstwahrnehmung. Die Ostdeutschen haben unglaublich große Veränderungen bewältigt, das könnte Anlass für ostdeutsches Selbstbewusstsein sein! Das würde gegen den Verbitterungspopulismus helfen, den die AfD betreibt. Und auch gegen manches Schlechtreden, wie es die Linken in der Vergangenheit betrieben haben.
Vielleicht ist das Klagen nicht ganz unberechtigt. Die ostdeutschen Chefetagen werden immer noch von Westdeutschen besetzt.
Zunächst einmal: Es gibt keine Revolution ohne Elitenwechsel. Natürlich gab es dabei Ungerechtigkeiten und schmerzliche Verletzungen. Aber ja, nach 30 Jahren wünsche ich mir schon, dass Ostdeutsche die gleiche faire Chance auf Karriere haben, wie die Westdeutschen. Dafür müssten die westdeutschen Netzwerke immer mal wieder durchlöchert werden.
Offensichtlich haben Ostdeutsche eine besondere Beziehung zu Russland. Und das, obwohl die deutsche-sowjetische Freundschaft eher eine verordnete Beziehung war.
Ich habe das sowjetische Regime immer strikt abgelehnt. Aber ich hatte ein tiefes Mitgefühl mit den einfachen Russen, die im Weltkrieg so gelitten haben und denen es auch nach dem Krieg in der Regel bei weitem nicht so gut ging wie uns. Und wie viel russische Literatur habe ich gelesen! Das verbindet. Aber nicht mit Putin und seiner hochproblematischen Politik.
Sie wären eigentlich im September Begleiter einer touristischen Bildungsreise nach Russland gewesen. Die Reise ist nun verschoben worden. Trotzdem: Wie ist es zu diesem Arrangement gekommen?
Das war eine Idee der Agentur, die übrigens sehr anspruchsvolle Reisen anbietet. Und ich habe mir sehr selbstbewusst gedacht: Von Russland verstehe ich mehr als die meisten Westdeutschen. Da habe ich etwas zu erzählen.
Und wie ist Ihr Verhältnis zu den USA?
Politisch bin ich diesem Land nähergekommen. Aber ich sehe auch, wie sehr die amerikanische Kultur Westdeutschland geprägt hat. Im Guten wie im Schlechten. Ich halte die US-amerikanisch dominierte kulturelle Globalisierung für problematisch, weil sie Vielfalt zerstört. Und vor allem: Den USA fehlt die größte europäische Kulturerrungenschaft. Der Sozialstaat. Den sollten wir mit Klauen und Zähnen verteidigen.
Sie haben sich stets um einen Gebrauch der deutschen Sprache bemüht, der sich jenseits vorgestanzter Redeschablonen, Anglizismen und Modewörter bewegt. Aber verliert die deutsche Sprache nicht allmählich an Bedeutung?
Hoffentlich nicht. Allerdings muss sie geschützt werden. In der Wissenschaft wird fast nur noch Englisch gesprochen. Überhaupt erleben wir eine gewisse Verachtung der deutschen Sprache bei den Eliten. Ich wünsche mir, dass das Deutsche als Nationalsprache im Grundgesetz verankert wird. Das hat mit Nationalismus nichts zu tun. In anderen Ländern ist so etwas selbstverständlich.
Wie lange wird der deutsche Einigungsprozess noch andauern?
1991 hat der berühmte Gesellschaftstheoretiker Ralf Dahrendorf prognostiziert: Für die Herstellung von demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen in Ostdeutschland werden sechs Monate gebraucht, für die Entwicklung einer funktionierenden Marktwirtschaft sechs Jahre und das Entstehen einer selbstbewussten, selbstverantwortlichen Zivilgesellschaft sechzig Jahre. Ich würde sagen, wir sind im Zeitplan.
Haben die langen Fristen auch etwas damit zu tun, dass es 1990 keine Vereinigung von Gleichen gab?
Ganz sicher. Wenn ein erfolgreiches System sich mit einem gescheiterten verbindet, sind die Gewichte klar verteilt. Die einen sind die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge. Das sage ich ohne Vorwurf. Trotzdem tut es vielen Menschen im Osten weh. Geschichte ist häufig ungerecht.
Haben die jüngeren Generationen in Ostdeutschland die Chance ein gesamtdeutsches Wir-Gefühl zu entwickeln?
Unter bestimmen Voraussetzungen. Wenn sie zum Beispiel den Klageton vermeiden, den viele Ältere noch pflegen, indem sie von Kolonialisierung und Unterwerfung reden oder immer noch von einer anderen DDR träumen. Mich ärgert so etwas maßlos, weil ich glaube, dass es lähmt. Das macht nicht produktiv und ist noch nicht einmal Trauerarbeit. Zu der würde nämlich Selbstkritik gehören.
Das ist die Vermeidung des Negativen. Wie steht es mit positiven Voraussetzungen?
Die finden wir zum Beispiel in den Wanderungsbewegungen. Millionen sind in den Westen und Millionen sind in den Osten gegangen. Da entsteht eine hoffnungsvolle neue deutsche Mischung. Und schließlich: Viele der Jüngeren stellen sich den großen Herausforderungen unserer Zeit, nicht zuletzt der vielleicht größten Herausforderung, der ökologischen. Die unterscheidet nicht zwischen Ost und West.
Was machen Sie denn am 3. Oktober?
Ich fahre nach Potsdam. Ich gehe zum ökumenischen Gottesdienst und zu dem Festakt. Und am Abend werde ich mit meiner Frau einen schönen Wein trinken. Das gehört dazu. Meine Idee von einem guten Leben war vor 1989, am Wochenende zu Hause zu sitzen, die „Zeit“ ausführlich zu lesen und dazu einen Frankenwein zu trinken. (lacht) Und so ist es gekommen.