Unterschrift Wolfgang Thierse

31. Oktober 2023

 
31. Oktober 2023

Warum man die Kirche braucht

Warum man die Kirche braucht
(Festvortrag zur Feier des Reformationsfestes in St. Sebaldus, Nürnberg 31.10.2023)

 

Warum man die Kirche braucht, das ist die mir aufgegebene Frage – ausgerechnet für einen Festvortrag zur Reformationsfeier! Schon die Themenstellung aber verrät die Selbstzweifel, die in den Kirchen, die unter den Christen heimisch geworden sind. Die Kirche ist eben nicht mehr so selbstverständlich, wie sie es lange Zeit, über Jahrhunderte hinweg war, auch in der Zeit der Reformation und in Zeiten zwischen- und inner-kirchlicher Auseinandersetzungen seitdem.

Ich sage nichts Originelles, wenn ich feststelle: Wir erleben eine tiefe institutionelle Krise der Kirchen. Kirche ist nicht mehr eine unhinterfragte Sozialform von Religion. Sie steht – wenn nicht unter Rechtfertigungszwang – so doch mindestens unter Begründigungspflicht. Eben: Wozu braucht man Kirche? Warum ist sie, warum bleibt sie notwendig?

Sie kennen die Situation, die Zahlen. Die Mitgliedschaften in den beiden großen Konfessionen ist unter 50 Prozent der Bürger unseres Landes gesunken. Die Zahl der Gottesdienstbesucher ist – verstärkt durch die Coronapandemie – dramatisch im Sinkflug. Die Prognosen sind bedrückend: Bis 2060 sollen die Kirchen die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren. Manche sprechen von einer „Massenflucht“ auch von Engagierten, von einer „Kernschmelze“. Solche Beobachtungen und Befunde verderben die Stimmung und drücken auf das Selbstbewusstsein von Christen.

Da ist es vermutlich kein Trost, verhilft aber vielleicht zu einem sachlicheren, nüchterneren Blick, wenn man auf größere Zusammenhänge verweisen kann.

  • Der Religionsmonitor teilt uns mit: Kirchenmitgliedschaft nimmt ab, aber nicht einfach auch Religiosität. Wir leben also nicht in einer (nur) säkularen Gesellschaft, sondern in einer religiös-weltanschaulich pluralen Gesellschaft – so wie ja auch christlicher Glaube und Religion, auch Agnostizismus und Atheismus insgesamt individueller, vielgestaltiger, freier und also pluraler gelebt werden.
  • Die institutionelle Krise der Kirchen ist Teil einer allgemeinen Krise der Institutionen in unserer Gesellschaft, in unserer Demokratie. Staat, Parteien, Gewerkschaften, Familie, öffentliche Medien leiden darunter. Man begegnet ihnen immer mehr mit Distanz, Misstrauen, Ablehnung und Wut, was zunehmend zu einem Problem für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und für die Zukunft unserer Demokratie werden dürfte.
  • Dem zugrunde liegt ein tiefgehender Prozess, für den die Soziologen die Begriffe Individualisierung und Singularisierung verwenden. Damit verbunden ist, ohne Zweifel, ein positiver Gewinn an individueller Souveränität und subjektiver Freiheit, aber auch eine Entfremdung von sozialen Bindungen und Selbstverständlichkeiten, von kulturellen Einbettungen und Milieus. Was auch die Gemeinschaft namens Kirche trifft.
  • Wenn dann noch schwere innere Erschütterungen der Glaubwürdigkeit der Kirche, ihrer moralischen Autorität hinzukommen, also der abgrundtiefe Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche, der seinen langen Schatten auf die Kirche insgesamt wirft, also auch auf die Evangelische Kirche (der der volle und schmerzliche Aufklärungsprozess wohl erst noch bevorsteht) – dann muss Kirche sich mehr denn je rechtfertigen, muss sie sich und den Anderen, der kritischen Öffentlichkeit ihre Notwendigkeit, ihren Existenzgrund ins Bewusstsein rufen und erklären, warum man Kirche braucht.

Ich versuche, auf diese Frage in sieben Punkten zu antworten.

1.) Zunächst und vor allem hat die Kirche sich selbst ihres Auftrags zu vergewissern, immer wieder neu. Aber dieser Auftrag ist nicht neu. Die Kirche hat nämlich eine alte Geschichte zu erzählen und deren Erlösungsversprechen sichtbar und für uns verständlich zu machen. Oder, um es vertrauter zu sagen: Auftrag der Kirche ist es, das Wort Gottes, die frohe Botschaft des Evangeliums, zu verkünden, in Wort und in Tat, gelegen oder ungelegen.

Das ist ihr Kern, das gilt noch, das muss weiter gelten, sonst macht Kirche sich überflüssig. Dem hat ihre institutionelle Gestalt, haben ihre Aktivitäten und auch ihre Modernisierungsanstrengungen zu dienen. Sonst macht sie sich überflüssig. Sonst wird sie zu einem sozialen und moralischen Dienstleister. Nach denen gibt es gewiss kräftigen Bedarf und das muss Kirche wohl auch sein. Aber das wäre nicht ihr Unterscheidendes, das ihr Besondere und Eigene.

2.) Die Kirche lebt mit und in einem grundlegenden Widerspruch: Der christliche Glaube ich ziemlich anspruchsvoll. Es ist der Glaube an die universalistische Botschaft von der Liebe, die allen Menschen gleichermaßen gilt, die eine Hoffnung für alle verkündet, die zu einem moralischen Universalismus verpflichtet. Diese Botschaft, und dieser Glaube müssen aber verkündet, tradiert, gelebt werden in immer historisch begrenzter, fehlbarer sozialer Lebens- und Organisationsform. Diese ist – wie wir im Blick auf die Geschichte der Kirche doch wissen – immer gefährdet durch Ideologisierungen und Instrumentalisierungen, durch ihren Missbrauch zur Begründung von Herrschaft und Gewalt, durch Machtvermischungen mit Politik und Staat, durch jeweils begrenzte Inkulturierungen, durch unendliches menschliches Versagen.

An die Irrtums- und Fehlbarkeits-Geschichte, die Sünden- und Verbrechensgeschichte der Kirche zu erinnern, ist jedoch keine Absage an Kirche als Institution überhaupt, aber die Absage an eine institutionell versteinerte Kirche, die sich selbst vergötzt oder sich zum Zweck macht. Dass Christentum auch nach 2000 Jahren in institutioneller Form noch existiert, beweist ja doch auch eine erstaunliche Wandlungs- und Erneuerungsfähigkeit – wenn die Kirche weiß und sich immer wieder daran erinnert und misst, dass das was sie verkündet, größer ist, als sie selbst.

3.) Man könne auch ohne Kirche Christ sein, so meint laut Religionsmonitor eine Mehrheit der Befragten. Ich halte das für eine Illusion, jedenfalls dann, wenn Christsein nicht nur eine Patchwork-Religiosität meint (die ich nicht einfach verdammen will). So wenig man Mensch werden kann ohne Familie, so wenig man Individuum sein kann ohne die Gemeinschaft der Anderen, so wenig man Bürger sein kann ohne die Ordnungen der Gesellschaft, so wenig man Demokrat sein kann ohne die Demokratie als Regelwerk und Institutionengefüge – so wenig kann man Christ werden und als Christ leben ohne die Gemeinschaft der Glaubenden. Kirche, das meint ja nicht nur das Haus, die Institution, die Hierarchie, sondern meint vor allem die Gemeinschaft derer, die glauben, die als „wanderndes Volk Gottes“ unterwegs sind.

Auf Dauer gibt es christlichen Glauben nicht ohne die Kirche als Institution der Vergemeinschaftung, ohne deren kulturelle Prägekräfte, ohne den Traditionszusammenhang, den sie darstellt und vermittelt, ohne ihr Gedächtnis, ohne ihre sakralen Räume, ohne ihre Wunder der Musik und der Kunst, ohne ihre Gesellungsformen, ihre Riten. Wir beten „Vater unser“. Und wissen: Glauben kann nicht gelebt und nicht durchgehalten werden, ohne andere Menschen, die meinen Glauben teilen, ihn zu unserem Glauben machen.

Das ist jedenfalls meine Erfahrung als Christ in der DDR (die ja eine Art weltanschaulicher Erziehungs-Obrigkeitsstaat war). Wir haben als Christen überlebt, weil wir unser Christsein in gemeindlich-gemeinschaftlicher und ökumenischer Praxis gelebt haben. (Aber zugleich ist es dem atheistischen Staat gelungen, den Traditionszusammenhang, den die Kirche darstellt, zu zerstören und sie zu etwas Fremdem zu machen. Und Ostdeutschland zu einem der religionslosesten Regionen des Globus.)

4.) Die institutionell verfasste Gemeinschaft der Glaubenden ist in unserer demokratischen Gesellschaft ein durchaus wichtiger Akteur: Als sichtbarer Teil der Zivilgesellschaft, als ein Gegenüber (Partner?/Widerpart?) eines Staates, der nach unserem Grundgesetz umfassende Religionsfreiheit garantiert. Das erlaubt und, ja, verlangt den Blick „von außen“ auf die Kirche und ihren Dienst, ihre „Brauchbarkeit“ für die Gesellschaft. Was also kann, was sollte die Antwort aus der Perspektive der Gesellschaft sein, auf die Frage, warum man Kirche braucht?

Nun, wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, geprägt von sozialer, ethnischer, kultureller, religiös-weltanschaulicher Vielfalt. Diese Vielfalt ist keine Idylle, sondern voller Konflikte. Angesichts der gewachsenen und zunehmenden Diversität wird die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtiger und wichtiger. Wer sind wir? Was verbindet die, die doch nach Herkunft, Prägung, Orientierung so verschieden sind? Was ist das gemeinsame Wir?

Pointiert gesagt, Vielfalt entsteht und entwickelt sich in einer entgrenzten Welt „von selbst“. Vielfalt erzeugt aber nicht von selbst Gemeinschaftlichkeit, sozialen Zusammenhalt. Es bedarf viel mehr grundlegender Gemeinsamkeiten, die die so vielfältig verschiedenen Menschen miteinander verbinden. Um die muss man sich kümmern!

Zu diesen Gemeinsamkeit gehört zuerst und selbstverständlich die gemeinsame Sprache (hoffentlich gilt das noch).

Sodann gehört dazu, selbstverständlich, die Anerkennung von Recht und Gesetz, also der Regeln unseres Rechts- und Sozialstaates, die schließlich für alle gleichermaßen zu gelten haben. Also der viel gerühmte und geforderte Verfassungspatriotismus. (Aber ist der nicht eine ziemlich abstrakte und unsinnliche, unemotionale „zivile Religion“.)

Und gewiss wird gesellschaftlicher Zusammenhalt auch erzeugt durch die Beziehungen, die wir über den Arbeitsprozess und den Markt miteinander eingehen, als Arbeitskräfte und Konsumenten. Durch Kooperationen, durch das alltägliche Zusammenwirken der Menschen wird der Fortbestand der Gesellschaft gesichert, das Beziehungsgeflecht erzeugt, indem wir unsere Abhängigkeit von den Anderen als Gesellschaftsmitglieder erfahren.

Und selbstverständlich gehört auch die sichtbare Anstrengung um soziale Gerechtigkeit also, die faire Verteilung von Chancen und Pflichten, von Früchten und Lasten, zu den elementaren Voraussetzungen gelingenden Zusammenhalts (das ist eine der wichtigen Aufgaben demokratischer Politik!)

Über all dies bisher Genannte, dies eigentlich Selbstverständliche und Notwendige hinaus bedarf es, so meine ich, grundlegender Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen in dem, was wir Maßstäbe, Normen oder Werte nennen. Es bedarf tendenziell gemeinsamer Vorstellungen von Freiheit und ihrer Kostbarkeit, vom Inhalt und Umfang von Gerechtigkeit, vom Wert und der Notwendigkeit von Solidarität, gemeinsamer oder wenigstens verwandter Vorstellungen von sinnvollem und gutem Leben, von der Würde jedes Menschen, von der Integrität der Person, von Toleranz und Respekt. Also in den unsere liberale, offene Gesellschaft tragenden Überzeugungen – und ebenso auch in den geschichtlich geprägten kulturellen und sittlichen Normen, Erinnerungen, Traditionen.

Dieses nicht unmittelbar politische, sondern ethische und kulturelle Fundament gelingenden Zusammenlebens – das ist nicht ein für alle Mal da, sondern es ist gefährdet, ist umstritten, kann erodieren. Es muss immer wieder neu erarbeitet werden, es muss weitergegeben, vitalisiert, vorgelebt, erneuert werden. Das ist der Sinn des so oft zitierten Satzes des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.“ Die Verantwortung für diese Voraussetzungen, für dieses ethische Fundament unseres Zusammenlebens tragen – über die spezielle Zuständigkeit des Bildungssystems hinaus – alle Bürger, insbesondere die kulturellen Kräfte einer Gesellschaft und darin eben auch und in besonderer Weise Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und zwar in der Debatte miteinander.

An dieser Stelle ist nun wieder von den Christen, den Kirchen zu reden: Sie haben teil an dieser Verantwortung, haben geradezu die Pflicht, an der Debatte teilzunehmen. Gewiss nicht sie allein in einer pluralistischen Gesellschaft, nicht die Christen und die religiösen Menschen allein und selbstverständlich nicht so, dass die Kirchen noch triumphalistisch daherkommen könnten. Sondern sie müssen sich in einer pluralistischen Gesellschaft als Dialogpartner verstehen, sich in die Debatte, ja auch in den Streit einbringen, ohne jede Privilegierung. Aber sie sollten dabei auch nicht leisetreterisch und nicht ängstlich sein, wenn sie ihre eigene Sache vertreten.

Deren Überzeugungskraft hängt allerdings immer mehr davon ab, ob und inwieweit sie fähig sind zu selbstkritischer Reflexion und selbstkritischer Praxis. Das gilt zumal für die katholische Kirche nach der moralischen Katastrophe des Missbrauchsskandals, der vielfachen sexualisierten Gewalt. Die künftige Glaubwürdigkeit der Kirchen, ob ihnen überhaupt noch jemand zuzuhören bereit ist, wird ganz wesentlich davon bestimmt sein, wie konsequent und ehrlich sie mit diesem Skandal umgehen. Die Aufklärung wird nicht mehr nur Sache der Kirche selbst sein können. In einer offenen Gesellschaft wird eine geschlossene, sich abschließende Institution immer weniger eine positive Rolle spielen können.

5.) Eine positive Rolle in der Gesellschaft spielen – dieser Erwartung und dieser Anspruch soll und darf die Kirche nicht zu einer „Moralagentur“ verkürzen, die einer zerstrittenen, zerklüfteten Gesellschaft den moralischen Kitt zu liefern hätte. Dazu beitragen kann und soll sie wohl, aber die Kirche kann dies nur, wenn sie sich nicht auf eine Moralagentur reduzieren lässt. Sondern, wenn sie ganz bei sich bleibt, bei ihrem ureigensten Auftrag: Von Gott und seiner Gegenwart zu reden und zu zeugen, vom Glauben an etwas, das bedingungslos und unverfügbar ist.

Wenn sie nicht vergisst und verdrängt, dass „Glauben das zweckloseste Tun des Menschen ist, pures Vertrauen ohne jegliche Absicherung“ (so hat es zutreffend präzise der Münchner Pfarrer Reiner Maria Schlüßler gesagt).

Ganz modern, ganz zeitgemäß sein zu wollen, alle ärgerliche Fremdheit, alle anstößige Ungleichzeitigkeit tilgen zu wollen, das würde die Kirche unsichtbar und überflüssig machen. Ohne die widerborstige Erinnerung daran, dass der Mensch nicht Gott ist und nicht Gott sein soll, wäre die Kirche tatsächlich nur eine Moralagentin unter anderen.

An Gott zu glauben, heißt doch zu wissen: Wir Menschen sind nicht selber Gott. Das mag eine Kränkung des menschlichen Selbstbewusstseins sein. Aber dieser Glaube kann befreien: Von der Selbstüberschätzung, alles selbst haben zu können. Und von der Selbstüberforderung alle Probleme und Konflikte selbst lösen zu müssen. Von der illusionären Leistungsideologie, dass man seines Glückes Schmied sein könne, sein müsse. Der Glaube warnt vor einem allzu selbstherrlichen Verständnis von menschlicher Autonomie. Der Glaube kann schützen vor Resignation und Verzweiflung und Zynismus, die aus dem Scheitern der Selbstansprüche folgen.

Aus diesem Glauben kann ein größeres Selbstvertrauen, ein gelasseneres Selbstbewusstsein gewonnen werden, weil es auf Gottvertrauen gründet. „So der Herr will und wir leben“, das ist Ausdruck solchen hoffnungsvollen Vertrauens. Aber eben nicht der Selbstgewissheit. Und genau das könnte und sollte eine motivierende Kraft sein, für die Bewältigung der so viel Angst und Unsicherheit erzeugenden Krisen und Konflikte der Gegenwart.

An diesem Glauben festzuhalten, ihn zu bezeugen, zu ihm zu ermuntern, das kann und sollte der Dienst der Kirche an der Gesellschaft sein, auch und gerade an der Politik, in Widerspruch und Widerstand zu den totalitären Ansprüchen und Gefährdungen des Politischen. Darum braucht man die Kirche! Die moderne Gesellschaft, unsere moderne Demokratie ist durchaus auf diese „unmoderne“ Ressource angewiesen. Darin muss die spannungsvolle, anstößige und zugleich menschengemäße Ungleichzeitigkeit der Kirche bestehen. Der Literaturnobelpreisträger dieses Jahres Jon Fosse sagt es so: „Heute ist die Kirche eine der letzten Institutionen, die dem Streben nach Geld etwas entgegensetzt: die Bedeutung der Seele, die Würde des Lebens“.

Die Kirche als Institution mit dem Sinn für das Unverfügbare, mit dem Mut und der Demut zur Selbsttranszendenz, mit dem Angebot einer überschießenden Hoffnung. Als Institution, in der die Traditionen von Liebe, Gerechtigkeit, Versöhnung weitergetragen werden. Eine Schatzkammer der Erinnerung. Eine Erzählgemeinschaft von Geschichten von gutem, gelingenden Leben, mit der Bibel beginnend und nicht mit ihr endend. Eine Gemeinschaft der Leidempfindlichen und deshalb Betenden. Ein Begegnungs- und Resonanzraum der sozial, kulturell und ethnisch Verschiedenen, die vor Gott gleich und im Glauben gemeinsam sind.

Was alles soll ich noch (pathetisch) über die Kirche sagen?!

Vielleicht noch dies – mit Blick auf die eingangs skizzierte Situation, den Mitgliederschwund. Eine Entwicklung, der sich – wenn wir tapfer sind – ein positives Momentum abgewinnen lässt: Wir gehen einer Kirche der freiwilligen Entscheidung entgegen. Mir kommt das vertraut vor. Wir Christen wurden in der DDR zur Minderheit. Und Minderheit heißt: Nichts ist selbstverständlich, nichts ist vorgegeben durch den stummen Zwang des Milieus, alles ist – tendenziell wenigstens – Entscheidung, für die einzustehen man von Kindheit zu lernen hatte. Ich will nichts nostalgisch glorifizieren. Aber wir sollten auch nicht nur schwarz sehen!

6.) Diakonie und Caritas (um endlich von ihnen zu sprechen), tätiges Zeugnis also, sie gehören zum Wesen von Kirche. Sie sind aber notwendig mehr als individuelle und gewiss löbliche Mittätigkeit. Sie sind unweigerlich auch Einmischung in den demokratischen Streit – nicht als parteipolitische Stellungnahme, sondern viel mehr als Widerspruch oder Zustimmung, wenn es um Grundfragen des Lebens und des Zusammenlebens geht, als theologisch begründete und zugleich sach-argumentative Intervention. Mögen auch viele Bürger den Kirchen nicht mehr folgen, deren moralische Unterweisungen für ihr persönliches Leben nicht mehr für wichtig halten: Die Erwartung an die Kirchen, sich zu äußern, wenn es um Grundfragen des Lebens geht, dies Erwartung ist – ausweislich demoskopischer Untersuchungen – immer noch vorhanden (trotz des dramatischen moralischen Reputationsverlustes der Katholischen Kirche). Und die Kirchen sollten sich auch nicht irritieren lassen, dass sie für viele Menschen bestenfalls noch „Anstalten der stellvertretenden Moral“ sind: „Die sollen vorleben, was mir fremd geworden ist“. Eine gewiss widersprüchliche Erwartung, aber doch eine Erwartung.

Die Kirchen können sich der Öffentlichkeit und dem Dienst an der Gesellschaft gar nicht entziehen und wollen es vernünftigerweise auch nicht. Ein Blick in die soziale und politische Realität zeigt: Unsere Gesellschaft und auch der demokratische Staat leben vom Engagement seiner Bürger, leben von deren Motivation, das eigene Interesse immer wieder neu auf das Gemeinwohl hin zu relativieren und zu übersteigen. Dabei spielen Angehörige von Religionsgemeinschaften eine wichtige Rolle. Sozialwissenschaftliche Studien belegen immer wieder, dass christliche Religion über Identitäts- und Statusgrenzen hinweg integrierend wirkt und „brückenbildendes Sozialkapital“ (so der soziologische Terminus) bildet, also eine bedeutende Quelle sozialer Integration ist.

Religiösen Menschen kommt demnach eine für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unersetzliche Funktion zu. Dies zu betonen, bedeutet keinen Ausschließlichkeitsanspruch zu erheben und übersieht nicht die integrativen Leistungen anderer Gemeinschaften.

Als Politiker füge ich hinzu, dass der säkulare demokratische Staat sehr dumm wäre, wenn er auf dieses Potenzial verzichten würde. Selbstbewusst darf man wohl sagen: Christen und Kirchen haben Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland mitgestaltet, durch ihr politisches Engagement, ihre sozialen Leistungen, ihre Bildungsarbeit, ihre moralischen und religiösen Interventionen. Das Christentum ist ein prägender Teil unsres Landes und dieses, bei allen Unzulänglichkeiten ganz gut damit gefahren. Es hat vom Engagement der Christen durchaus profitiert.

Der weltanschaulich neutrale demokratische Staat bleibt nämlich auf Menschen angewiesen, die sich in Weltanschauungs- und Religionsfragen nicht neutral verhalten – die sich aber ausdrücklich auf Fairness und Friedfertigkeit im Verhältnis zueinander verpflichten lassen. Diese nicht neutralen Bürger machen den Staat – mit ihrem Gottesglauben oder ihrem Unglauben. Und die machen auch die Kirche.

7.) Wir befinden uns in einer turbulenten Gegenwart. Von einer „Zeitenwende“ ist die Rede. Und tatsächlich erleben wir die Gleichzeitigkeit von Kriegen, von dramatischen und krisenhaften Problemen und Veränderungsnotwendigkeiten. Es ist viel, sehr viel, was zu bewältigen ist – von den einzelnen Menschen wie von der Gesellschaft insgesamt. Die Politik ist auf extremste Weise herausgefordert, die Fülle der Probleme und Konflikte zu lösen und dies angesichts einer verunsicherten, zukunftsgeängstigten, ungeduldigen Bevölkerung. Ein durchaus kritischer Moment für unsere Demokratie.

Und die Christen, die Kirchen? Sie sollten in solcher Zeit und aggressiver Stimmung um Verständnis für demokratische Politik, für demokratische Politiker werben, deren Handeln und Entscheiden immer unter Unsicherheits- unter Unwägbarkeitsbedingungen stattfindet.

Wir Christen wissen es doch nicht deshalb schon besser, weil wir Christen sind. Aber weil wir Christen sind, sind wir unabweisbar herausgefordert mitzudenken und mitzutun bei der Bewältigung der scheinbar überwältigenden Probleme der Gegenwart: Kriege zu beenden, pluralistische Vielfalt in unserer Gesellschaft friedfertig zu leben, technologische Umwälzungen menschenfreundlich zu gestalten – und vor allem die überlebensnotwendige, schmerzliche und zukunfteröffnende ökologische Transformation entschlossen zu verwirklichen.

Wie das alles genau auszusehen hat, in welchen Schritten dies genau zu erfolgen hat, darüber haben wir Christen, haben die Kirchen kein gesondertes Wissen. Das ist vielmehr im demokratischen Streit zwischen Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, zwischen den Generationen und in der Bürgergesellschaft auszuhandeln und in die Tat umzusetzen, in Veränderungen und Reformen der Zukunftsgestaltung. Und wir Christen haben uns daran kräftig und engagiert zu beteiligen.

Christlicher Glaube kann und soll dazu starke Motivation sein und kräftige Hoffnung vermitteln wider alle Skepsis und Resignation, wider alle Apathie und Verzweiflung, wider alle Verlustangst und Verzichts-Apokalypse, wider alle Bequemlichkeit und störrische Abwehr! Nicht mehr, aber auch nicht weniger als Hoffnung.

Und die Überzeugung, die Botschaft, dass gutes, gelingendes Leben nicht identisch ist mit andauerndem wirtschaftlichem Wachstum und ständiger Wohlstandsvermehrung! Und dass individuelle Selbstverwirklichung angesichts der Bedrohung durch Krieg und Klimakatastrophe zweitrangig sein könnten. Und Selbsterhaltung nur als gemeinschaftliches Projekt gelingen kann. Gesellschaft und Demokratie bedürfen solcher Botschaft nüchterner Wahrhaftigkeit. Bedürfen der Hoffnung, die von Ängsten und Resignation frei machen kann. (Die Christen, die Kirchen könnten und sollten mit dieser Botschaft doch eigentlich ganz bei sich selbst sein, hoffe ich!)

Die angefochtene Demokratie ist ja die politische Lebensform der Freiheit und damit auch die Grundlage der Religionsfreiheit. Schon deshalb haben Christen und Kirche auf der Seite der Demokratie und der Demokraten zu sein und sind verpflichtet, sie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Das ist der aktuelle Sinn eines über 200 Jahre alten Satzes von Alexandre de Toqueville: „Despotismus kommt ohne Religion aus, Freiheit nicht“.