Beitrag für das Themenheft „Zugehörigkeit“ von Publik Forum Extra
Geht das noch oder geht es wieder: Von sich mit einiger Selbstverständlichkeit als Deutscher zu sprechen? Wenn damit mehr gemeint ist als die Staatsbürgerschaft. Kann man das selbstbewusst oder vielleicht sogar mit Stolz tun? Wie das bei unseren Nachbarvölkern möglich und üblich ist. Ist nicht viel mehr so etwas wie nationale kulturelle Identität der Deutschen – also das Deutschsein – mindestens so zweifelhaft und angefochten und verdächtig, dass man sich der Frage danach nur sehr demütig und sehr, sehr selbstkritisch nähern darf? Das ist sicher so (und das will mir zugleich durchaus als sehr deutsch erscheinen).
Trotzdem wage ich es zu sagen: Ich bin ein Deutscher. Und sage damit nicht etwas (über meine Staatsbürgerschaft hinausgehendes) Besonderes, dass mich über andere, etwa Nicht-Deutsche, erheben würde. Gewiss und hoffentlich. Aber ich meine doch etwas Bestimmtes, das mich unterscheidet, von anderen, die sich nicht als Deutsche empfinden und definieren können oder wollen. Was genau das ist, darüber lässt sich allgemein und grundsätzlich, so meine ich, eher schlecht und jedenfalls nur mit Schwierigkeiten und Risiken sprechen. Die Gefahren der nationalistischen Verirrung und des falschen Pathos sollten gerade uns Deutschen bekannt sein! Besser ist es, darüber persönliche Befunde mitzuteilen.
Auch als unverwechselbares Individuum ist man ja Teil eines sozialen Kollektivs (im weiten Sinn des Wortes), dessen Gemeinsamkeit konstituiert wird nicht nur durch soziale Aktion, sondern vor allem durch Sprache, geschichtliche Erfahrungen, Kultur. Auch wenn man es nicht wahrhaben will und bestreitet (schließlich ist autonomes Individuum zu sein, der höchstrangige Anspruch in unserer Gesellschaft), so bleibt man doch unweigerlich Teil einer Schicksalsgemeinschaft, einer Gesellschaft, die immer auch eine Erinnerungsgemeinschaft ist. Das kann eine Last sein: Zu Deutschland gehört die Erinnerung an den Holocaust – eine Erbschaft, die nicht auszuschlagen ist.
Man lebt eben nicht in einem leeren Land, sondern in einem geschichtlich und kulturell tiefgreifend und vielfältig geprägten Land, dessen Prägungen auch die eigenen sind, gewiss verschieden stark und unterschiedlich intensiv erlebt und reflektiert. Kann man diese Prägungen abstreifen, sich aus dem „Deutschsein“ davonstehlen? Viele Deutsche wollten das – nach der Katastrophe 1945 verständlich – und wollen das auch heute – in einer entgrenzten Welt der Multikulturalität. Aber das gelingt nicht so leicht. Spätestens unsere (europäischen) Nachbarn erinnern uns Deutsche an uns selbst. (Dass das Deutschersein sein schambehaftet kann, sein muss, das habe ich als junger Mann bei meinen jeweils ersten Besuchen in unseren östlichen Nachbarländern erkennen müssen.
Auch wenn ich die Warnung von Max Frisch kenne – „Jeder erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er dann für sein Leben hält“ – kann ich es nicht anders empfinden und sagen: Meine persönliche Geschichte kommt mir mit ihren Prägungen sehr deutsch vor.
In der Nazizeit während des II. Weltkrieges geboren in der damals noch deutschen Stadt Breslau (der „Blume Europas“, wie sie von einem britischen Historikerpaar genannt wurde). Aus dieser Heimat vertrieben und im östlichen Teil des verbliebenen Deutschland, in Thüringen aufgewachsen, eine Kindheit und Jugend im Schatten von Naziverbrechen und Krieg und deren Folgen. Die immer anwesend waren, die man nicht verdrängen konnte! Wie oft habe ich das KZ Buchenwald bei Weimar besucht, schon als 5-jähriger Junge wurde ich mit einer Kindergruppe hingeführt, ohne etwas begreifen zu können, aber das Grauen von damals und die Betroffenheit blieben bei allen späteren Besuchen. Das unmittelbare Erleben des gespaltenen Deutschlands: Unsere Familie war in eine Kleinstadt hart an der Grenze zu Bayern geraten, sie wurde später Teil der Sperrzone. Wir lebten also auf der falschen Seite, im ärmeren und unfreien Teil mit all den Bedrängnissen und Unterdrückungserfahrungen einer Diktatur, die auch eine weltanschauliche Erziehungsdiktatur war.
Um so wichtiger war das Festhalten an deutschen Gemeinsamkeiten! Fast alle Verwandten waren in den Westen Deutschlands gelangt, aber der familiäre Zusammenhalt wurde gepflegt, solange es ging. Die Sprache wenigstens blieb die gemeinsame über die Grenze hinweg. Deutsch wurde mein Lieblingsfach in der Schule – und die Liebe zur deutschen Sprache führte mich schließlich zum Germanistikstudium. Und unsere deutsche Geschichte blieb gemeinsam, auch wenn sie immer unterschiedlicher und gegensätzlicher zwischen Ost und West interpretiert wurde. Geschichtsunterricht hatte ich immer zweimal: Kommunistisch in der Schule, antikommunistisch zu Hause, beim Vater. Und die Last der gemeinsamen deutschen Geschichte: Vor der konnten wir, die eingesperrten Ostdeutschen, anders als die Westdeutschen, nicht fliehen, denn sie blieb bis zum Schluss der DDR immer unübersehbar anwesend. Wir Ostdeutschen haben uns viel mehr an ihr abarbeiten müssen. Vor allem aber war das Bewusstsein gemeinsamer Kultur für uns im Osten, auch für mich, von besonderer und bleibender Gewichtigkeit. Die Staatsnation war gespalten, aber die Kulturnation war geblieben, wenigstens diese. Das kulturelle Erbe blieb doch gemeinsam und verband die Deutschen in Ost und West gegen die gegensätzlichen politischen Entwicklungen. (Sollte nun die deutsche Kulturnation tatsächlich erledigt und überflüssig sein, nachdem wir Deutschen wieder als Staatsnation vereinigt sind?)
Die Begeisterung für´s (deutsche) Kulturerbe wurde bei mir schon früh entzündet. Die DDR verstand sich ja – in der Tradition der Arbeiterbewegung – als Kulturstaat, die Pflege des Erbes und der reichen kulturellen Infrastruktur gehörte dazu. So gab es in der 6000 Einwohner zählenden Kleinstadt in den 50er-Jahren regelmäßige Sinfonie- und Kammermusik-Konzerte, die ich von Kindesbeinen an besuchte. Unvergesslich ist mir die Begeisterung meines Vaters anlässlich eines Beethoven-Konzerts, die sich auf mich bleibend übertrug. Als Schriftsetzerlehrling in den 60er-Jahren in Weimar wurde mir die Stadt zur pädagogischen Provinz in Sachen deutscher Klassik: Theater und Konzerte, Museumsbesuche und abendliche Soireen, literarische und kulturgeschichtliche Vorträge – von Lessing über Goethe und Schiller, Kleist, Büchner und Heine bis zu Thomas Mann und später vor allem auch Brecht, ebenso die romantische Dichtung und Musik, das deutsche Kunstlied… Der tradierte (eben nicht nur bildungsbürgerliche) kulturelle Kanon der Deutschen, ich habe ihn nach und nach kennen und lieben gelernt. Zuerst in Weimar, dann während des Studiums von Kulturwissenschaft und Germanistik in Berlin mit seiner überwältigenden Fülle an Kulturangeboten des Alten und des Neuen. Die grundsätzliche Wertschätzung des (allerdings nicht nur deutschen) kulturellen Erbes und zugleich die Neugier auf Neues, das ist selbstverständlicher Teil meiner Identität geworden, ohne den mein Leben wohl ziemlich armselig wäre!
Zu dieser meiner Identitäts-Prägung gehört gewiss auch der christliche Glaube, in den hinein und mit dem ich gewachsen bin, immer als Minderheitserfahrung: zunächst als katholischer Christ in einem damals noch protestantisch geprägten Thüringen, später dann als Christ unter lauter Atheisten und Agnostikern in der kämpferisch-atheistischen Erziehungsdiktatur DDR. Immer angefochten, verdächtigt, infrage gestellt waren Religion und Religionskritik zugleich von Kindheit und Jugend an Teil meiner Denkwelt. Neben Luther und mancherlei katholischem und evangelischem Schrifttum – die Ostberliner Studentengemeinde war ein Ort freien Geistes in einem unfreien Land – gehörten dazu natürlich die klassische deutsche Philosophie von Kant und Hegel, die erzwungen-freiwillige ausführliche Lektüre von Marx und die kritische Abwehr des verordneten Marxismus-Leninismus mithilfe von Denkern wie Adorno und Habermas…
Ich breche ab. Meine Prägungen sind wohl wirklich sehr deutsch, wie sollte es auch anders sein. (Günter Gaus und Martin Walser haben den Ostdeutschen vor über 30 Jahren bescheinigt, dass sie viel deutscher geblieben seien als die Westdeutschen.) Muss ich mich dafür schämen, davon Abstand nehmen? Weil wir in einer offeneren Welt leben, in einer pluralistischer gewordenen und weiter werdenden Gesellschaft, die durch Migration, entgrenzte Kommunikation und ethnische wie kulturelle und religiös-weltanschauliche Diversität gekennzeichnet ist. Diese Pluralität, wir erleben es, ist keine Idylle, sondern steckt voller Konfliktpotential. Ihre Konflikte werden nicht zuletzt als Kulturkämpfe ausgetragen. Das ist wohl unvermeidlich. Denn Kultur ist ja immer ein geschichtlich geprägtes Ensemble von Lebensstilen und Lebenspraktiken, von Überlieferungen, Erinnerungen und Erfahrungen, von Einstellungen und Überzeugungen, von Denkstilen und Kommunikationsweisen, von ästhetischen Formen und künstlerischem Gestalten. Dieses Ensemble, also die Kultur, prägt mehr als andere Teilsysteme einer Gesellschaft, die (relativ stabile) Identität, einer Gruppe, einer Gesellschaft, auch einer Nation. Gilt das nicht mehr in globalisierter Welt? Darf das nicht mehr gelten in pluralistischer, migrantischer Gesellschaft? Die aber doch das Bedürfnis nach Identität verstärken – und dessen Befriedigung zugleich erschweren. Die Kultur ist es, die der Ort der Differenzen, ihrer Schärfung und Minderung zugleich ist. „Das Eigene muss so gut gelernt sein, wie das Fremde“, war schon bei Friedrich Hölderlin zu lesen!
Dürfen nur die Zu-Uns-Kommenden und -Gekommenen ihre kulturelle Prägung verteidigen und zur Geltung bringen oder dürfen die schon länger hierzulande Einheimischen das auch? Das (bisher) Eigene will so gut gelernt sein, wie das (bisher) Fremde: Das gilt doch wohl wechselseitig. Die immer neue, auch kritisch-intelligente Aneignung des Erbes ist notwendig. Aber wir sollten uns gegen die Generalverdächtigung wehren dürfen, dieses (deutsche und europäische) kulturelle Erbe sei fundamental durch strukturellen Rassismus vergiftet, sei insgesamt patriarchale und kolonialistische Kultur. Wir sollten darauf bestehen dürfen, dass institutionelle Bilderstürmerei und die Säuberung öffentlicher Orte und des kulturellen Kanons (der ohnehin viel weniger in Stein gemeißelt ist, als viele meinen) nicht zu obligatorischen Voraussetzungen werden für friedliche kulturelle und weltanschauliche Pluralität. Es sei denn, es ginge nur noch um den kleinsten gemeinsamen Nenner – die Unsichtbarkeit von Religion und das Unsichtbarmachen von widersprüchlicher eigener Geschichte und Kultur. Es sollte jedenfalls keine Pflicht geben, den Zu-uns-Kommenden ein geschichtlich-kulturell gereinigtes Land anbieten zu müssen.
Ein Blick zurück auf unser Erbe zeigt: In den guten und glücklichen Phasen der deutschen Geschichte hat unsere Kultur eine besondere Integrationskraft bewiesen – und in den schlechten Phasen unserer Geschichte war das Land mit Abgrenzung und Ausgrenzung befasst. In der Mitte des Kontinents hat Deutschland in immer neuen Anstrengungen und geglückten Symbiosen Einflüsse aus West und Ost, Süd und Nord aufgenommen und etwas Eigenes daraus entwickelt, in gewiss widersprüchlichen und unterschiedlich langwierigen Prozessen (die nicht verordnet oder kommandiert werden können und müssen). Das macht nach meiner Überzeugung die besondere Leistungsfähigkeit der deutschen Kultur aus. Und das ist doch eine gute und fortsetzungswerte Tradition!
Unser kultureller wie auch unser materieller Reichtum heute gründet gewiss auch auf der Zuwanderung von Menschen und Ideen in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten. Was und wer fremd war, blieb es nicht. Das Fremde und die Fremden wurden deutsch, sie veränderten sich und die Deutschen mit ihnen. Kulturelle Integration lohnt sich und sie ist erreichbar und muss nicht in erfolglosem und endlosem Streit enden. Das beweist unsere deutsche Geschichte. Sie zeigt auch: Wer seiner selbst nicht sicher ist, reagiert mit Abwehr und Ausgrenzung, um seine labile Identität zu stabilisieren. Wer aber seiner selbst sicher ist, dem ist Offenheit und Angstfreiheit möglich. Wir Deutschen sollten bitte etwas mehr kulturelles Selbstbewusstsein wagen!