Unterschrift Wolfgang Thierse

2. Oktober 2022

 
2. Oktober 2022

Gespräch mit der Berliner Morgenpost

Wolfgang Thierse: „Der Westen hat sich dem Osten nicht übergestülpt“ Tag der deutschen Einheit – haben wir etwas zu feiern?

Wolfgang Thierse über alte und neue Bedrohungen, die DDR und das Gendern.

Im Gespräch mit der Berliner Morgenpost mit der Redakteurin Uta Keseling und den Volontären Alexander Rothe und Miriam Schaptke (2. Oktober 2022)

 

Herr Thierse, eine Umfrage ergab gerade, dass die Menschen in Deutschland immer unzufriedener mit der Demokratie sind. Im Westen waren nur noch 59 Prozentwaren laut mit der politischen Situation zufrieden, im Osten sogar nur noch 39 Prozent. Hat das immer noch mit der DDR und ihrem Ende zu tun?

Wolfgang Thierse: Ich denke, dieses Umfrageergebnis hat in erster Linie mit der dramatisch zugespitzten wirtschaftlichen, sozialen und atmosphärischen Situation zu tun. Wir leben inmitten der Gleichzeitigkeit dramatischer Veränderungen. Neben der Reaktion auf Putins Krieg gegen die Ukraine ist da die Globalisierung, deren unfreundliche Kehrseiten jetzt sichtbar werden, nämlich internationale Abhängigkeiten. Da ist die digitale Transformation, die radikale Veränderungen bewirken wird. Es gibt Flüchtlingsbewegungen, die immer auch zu inneren Konflikten in der Gesellschaft führen. Und das wichtigste Thema, die ökologische Katastrophe, verlangt nach tiefgreifendsten Veränderungen. In der Bevölkerung gibt es eine tiefe Verunsicherung. Und für die Politik sind das riesige Herausforderungen, für die es nicht einfache, flotte Lösungen gibt. Auf all das sind solche Umfragen ein Echo. Das muss manbetonen, weil man sonst oberflächlich wird, wenn man nur mit dem Finger auf die Politik zeigt.

Alexander Rothe: Die Verunsicherung ist im Osten deutlich höher als im Westen. Wird dort die Verantwortung eher an „die da oben“ abgeschoben als im Westen?

Die DDR war eine Diktatur, ein vormundschaftlicher Staat. Selbst die Möglichkeit der selbstbestimmten Handlungen und öffentlichen Äußerungen waren ja nicht gegeben. In der DDR gab es keine Verwaltungsjustizbarkeit, kein Recht des Bürgers, die staatliche Verwaltung  zu verklagen. Man konnte nur Eingaben und Bittgesuche an den Staat richten, musste also Erwartungen immer nach oben adressieren. Das ist der Hintergrund, vor dem ich sage, dass es in der DDR viel mehr Menschen gibt, die ihre Erwartungen und auch Schuldzuweisungen an „die“ Politik richten, oder „den Westen“. Und die weniger danach fragen, wie sie selbst ihre Mitbestimmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten vergrößern können, etwa, indem sie sich in der Kommunalpolitik engagieren.

Miriam Schaptke: Aber ist die Enttäuschung nicht auch berechtigt? Mit dem Ende der DDR, dem Transformationsprozess in den 1990er-Jahren, wurde den Menschen im Osten tatsächlich ein Teil ihrer Identität genommen. Sie fanden sich in einem fremden System wieder, fühlen sich teilweise bis heute als Menschen zweiter Klasse.

Wenn heute gesagt wird, es wurde ihnen gegen ihren Willen ihre Identität genommen, der Westen habe sich übergestülpt – nein! Ich werde nie das Frühjahr 1990 und die Wahl im März vergessen: Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte 1990 so schnell wie möglich unter das rettende Dach der Bundesrepublik Deutschland. Sie wollte den Versprechungen des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl glauben, was ich verstehe. Heute wird das von vielen verdrängt und es heißt, der Westen hat sie ihrer Identität beraubt.

Schaptke: Also hat es keine Probleme beim Transformationsprozess gegeben?

Das habe ich nicht gesagt. Natürlich war das ein unerhört schmerzlicher Vorgang. Ich habe als Politiker den Ostdeutschen niemals Wunder versprochen, sondern gesagt:  Seid nüchtern, es wird wehtun. Und es war so. Die Erfahrung von Massenarbeitslosigkeit, die Angst, die damit einherging, die Schmerzen von Veränderung und Verlust, das ist nicht vergessen.   Aber schaut zum Vergleich nach  Russland, Polen, Tschechien, Ungarn. In diesem Vergleich sind wir Ostdeutschen bei allem wirklich heftigen Schmerz und bei allen Fehlern, weil es ja kein Rezept für einen Systemwechsel gab, davongekommen.

Schaptke: Das war kein persönlicher Vorwurf.

Nein, aber es gibt bestimmte Redensarten, die einfach so westdeutsch sind… Wie soll ich das sagen? Die Ostdeutschen haben ja ein Leben lang nach dem Westen geblickt. Wir sind via Fernsehen jeden Abend in den Westen ausgewandert. Es gab eine West-Fixierung, der Westen war der Maßstab der Dinge. Und jetzt kommen selbst noch die Narrative aus dem Westen! Was ich mir wünsche ist, dass die Ostdeutschen selbstkritisch mit ihrer Geschichte umgehen. Und dass sie selbstbewusst begreifen, was sie in den letzten 32 Jahren an Transformationserfahrungen und Leistungen bewältigt haben.

Schaptke: Aber geht es nicht einfach darum, dass die Ostdeutschen mit ihren schmerzhaften Erfahrungen gesehen werden wollen? Ich glaube, dass das im Westen tatsächlich nicht sehr präsent ist. Ich bin 1995 in Bayern geboren, bei uns war die DDR lange Zeit gar kein Begriff. Erst mit der Berlinfahrt in der 10. Klasse wurde das aufgearbeitet. Was die DDR für die Menschen bedeutet hat, habe ich erst aus den Erzählungen von Kommilitonen verstanden, deren Eltern in der DDR gelebt hatten. Irgendwann prallt man dann aufeinander. Im Westen sind viele für die Erfahrungen der Menschen in Ostdeutschland einfach nicht sensibilisiert.

Da stimme ich Ihnen zu. Warum sollte jemand in Freiburg im Breisgau denken, es müsse sich bei ihm etwas ändern, nur weil sie in Leipzig den Kommunismus erledigt haben? Das kann ich niemandem vorwerfen. In den 1990er-Jahren bin ich wie ein Wanderprediger herumgelaufen und habe gesagt: Wie wäre es, wenn sich Ost- und Westdeutsche wechselseitig ihre Lebensgeschichten erzählen? Dann wird man begreifen, dass die einen nicht nur Erfolgs- und Heldengeschichten haben und die anderen im Osten nicht nur Schurken- und Verratsgeschichten. Und auch das bleibt richtig: Das Urteil über das System, das die Menschen überwinden wollten und es geschafft haben, muss hart und entschieden sein. Aber das Urteil über die Menschen selbst, die Biografien, muss behutsam und differenziert sein. Das ostdeutsche Selbstbewusstsein gewinnt man nicht durch Schuldzuweisungen, an wen auch immer, sondern durch den Blick auf die vergangenen 30 Jahre, die man überstanden hat. Und erst recht auf das Jahr 1989, auf das ich stolz bin.

Schaptke: Wenn wir jetzt auf den 3. Oktober schauen: Wie kann man den Tag nutzen? Es ist ja vielleicht nicht nur ein Tag zum Feiern, sondern auch für die Aufarbeitung, um zu sagen, wo die Einheit noch nicht so gut gelungen ist.

Das ist aber ja auch wieder typisch deutsch. Alles nicht Erreichte, die Unzufriedenheit, alles wird regelrecht zelebriert. Wir könnten uns doch auch erinnern, dass die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung das glücklichste Ereignis in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gewesen ist – in dem es wahrlich ganz viele böse und unglückliche Ereignisse gegeben hat. Das könnten wir doch auch feiern! Das fällt uns schwer, sicher auch wegen unserer bitterbösen Geschichte. Ich finde, man sollte nichts verdrängen, aber gelegentlich kann man auch sagen, was erreicht worden ist.

Keseling: Sie sprechen vom „Wunder“: War die Deutsche Einheit nur ein Glücksfall? Kann die friedliche Revolution Motivation sein angesichts der aktuellen Lage?

Ja, die deutsche Einheit war ein historischer Glücksfall. Und die Personifizierung dieses Glücksfalls heißt Gorbatschow. Das Verrückte ist ja: Wenn Gorbatschow mit seiner Reform des Kommunismus in der Sowjetunion Erfolg gehabt hätte, dann hätte er kein Motiv gehabt, die deutsche Einheit zuzulassen. Dann hätte er kein Geld vom Westen gebraucht. Dass Gorbatschow die Reform wollte, ist eine welthistorische Leistung – aber es war eben doch eine glückliche Konstellation. Schon ein Jahr später gab es einen Putsch gegen Gorbatschow. Heute unter Putin wäre das alles ohnehin undenkbar. Putin, das ist ein neuer Imperialismus. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Einheit Deutschlands erfolgreich weiterführen und an der Überwindung der noch vorherrschenden Differenzen arbeiten. Und dass wir die Einheit Europas verteidigen. Denn Putins Krieg ist auch ein Angriff auf das vereinte Europa.

Rothe: 2014 haben Sie im Zusammenhang mit der Ukraine geschrieben, man solle Putin nicht verteufeln. Würden Sie das heute auch noch so sagen?

Man hat nichts davon, wenn man jemanden verteufelt. Es reicht zu beschreiben, dass er ein Aggressor ist, der imperiale Ziele verfolgt. Das sehen wir heute klarer als vor 10 oder 20 Jahren. Aktuell weiß niemand, wozu Putin bereit ist, wenn er in die Enge gedrängt wird. Man sollte ihn und seine Drohungen ernst nehmen. Natürlich gibt es auch Argumente, die dagegen sprechen, dass er Atomwaffen einsetzt, die letztlich auch die eigenen Soldaten beschädigen. Doch die russische Geschichte war noch nie gekennzeichnet durch besondere Rücksichtnahme auf die eigene Bevölkerung. Aber bei aller Schärfe meiner Kritik an Putin und diesem Krieg ist es doch auch eine Tatsache, dass Russland der größte Nachbar in Europa ist. Jetzt müssen wir unsere Sicherheit gegen Putin-Russland verteidigen, nach Putin können und müssen wir wieder fragen, wie eine europäische Friedensordnung mit Russland aussehen kann. Denn Russland ist und bleibt. Das ist die nüchterne Erfahrung eines DDR-Bürgers. Russland, als Sowjetunion, war für uns immer sehr präsent und übermächtig. Erst mit Gorbatschow konnten wir sie als Übermacht loswerden.

Keseling: Die Sowjets wurden ja nicht nur als Schutzmacht empfunden.

Ja, die Sowjetunion war eine Besatzungsmacht. Und die historischen Erfahrungen vom Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR, von den Aufständen in Polen und Ungarn 1956, die Erfahrungen vom Mauerbau 1961, dem Prager Frühling 1968, und von Solidarność 1980/81 – all die bitteren Niederlagen zeigten uns: Erst, wenn sich in Moskau etwas ändert, haben wir die Chance, dass sich bei uns etwas ändert. Damals kam Gorbatschow und er war unsere Chance. Das war großes, historisches Glück.

Rothe: Wie zuversichtlich sind Sie, dass es bald ein Post-Putin-Russland gibt?

Zunächst bin ich gar nicht zuversichtlich. Aber es muss einfach ein Nach-Putin-Russland geben. Nüchtern betrachtet geht es darum, die Ukraine so weit militärisch zu unterstützen, dass es die Chance gibt, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnt. Dass er sich bereit erklärt zum Waffenstillstand und zu Friedensverhandlungen.

Rothe: Auch wenn es Expert:innen nicht für wahrscheinlich halten, dass er sie einsetzt: Putin hat Atomwaffen. Fühlen Sie sich dadurch und durch die Sabotage-Akte in der Ostsee an 1968 erinnert?

Das war etwas anderes. Damals ging es um den Einfall sowjetischer Truppen in einen Satellitenstaat, in einen Teil des sowjetischen Herrschaftssystems. Dieses Herrschaftssystem ist 1989 zerfallen. Putin bezeichnet den Zerfall der Sowjetunion ja als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ und will diese revidieren. Er will zumindest die Ukraine und vermutlich auch die ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken zurück. Russland ist unter Putin eine revisionistische Macht, die Grenzen verändern will.

Keseling: Annalena Baerbock hat im vergangenen Jahr vor der Abhängigkeit Deutschlands von Russland beim Erdgas gewarnt. Es gibt in Deutschland jetzt viele Vorwürfe, man hätte genauer hinsehen müssen.

Niemand hatte mit diesem barbarischen Krieg gerechnet. Alle dachten, Putin wäre dafür zu nüchtern und kalkuliert. Wer behauptet, er hätte es kommen sehen, den halte ich für einen Schlaumeier. Doch ich räume ein: Wir hätten 2014, nach der Annexion der Krim, viel kritischer nach Russland schauen müssen. Aber es war zuvor doch ein vernünftiges politisches Konzept, mit Russland Verträge zu schließen. Und unser Wohlstand baut schließlich darauf auf, dass wir von Russland billiges Gas und billige Energie bekommen haben. Dazu kam das politische Ziel, durch wirtschaftliche Verflechtung Spannungen zu entschärfen und ein friedliches Geflecht in Europa zu entwickeln. Das ist nun zu Ende, auch deshalb wird der Wohlstand in Deutschland wohl abnehmen.

Rothe: Aber 2001 ist Putin schon in Tschetschenien einmarschiert, richtig? 2008 der Georgienkrieg. Er hat sein Gesicht schon viel früher gezeigt.

Ja, es gibt eine Blutspur von Putin. Doch zur Zeit des Einfalls Putins in Tschetschenien gab es eine große, globale Furcht vor Terrorismus. Sein Einmarsch fügte sich ein in dieses Bild des Kampfs gegen den Terrorismus, deswegen hat man es zugebilligt. Außerdem war klar: Sicherheit in Europa kann man nur mit Russland erreichen, es brauchte Verträge. Das war nicht falsch, denn die Konfrontation der beiden hochgerüsteten Systeme war bis 1989 ein sehr gefährlicher Zustand. Deshalb waren  Abrüstungsvereinbarungen mit der Sowjetunion wichtig, genauso wie die Vereinbarungen nach 1989 mit Russland, z. B. das Pariser Abkommen, sinnvoll waren.

Keseling: Wie damals gehen jetzt in Deutschland wieder Menschen auf die Straße mit Schildern: „Frieden schaffen ohne Waffen“. Sie demonstrieren für Gaslieferungen aus Russland und gegen die Politik der Bundesregierung. Es gibt die Angst, dass wir wieder in Situation der Bedrohung der zwei Blöcke zurückkommen.

Das ist keine eingebildete Angst. So wie es vor 1989 auch keine eingebildete Angst war. Nun aber haben wir die erschütternde Erfahrung gemacht, dass alle Vereinbarungen nicht mehr zählen. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat Russland Europas Friedensordnung zerstört. Und wir befinden uns in einer grundlegend anderen Konstellation: Wir müssen uns gegen eine Aggression verteidigen. Nicht nur die USA, die immer hochgerüstet waren, sondern auch Europa muss aufrüsten. Abkommen reichen offensichtlich nicht, um etwa die baltischen Länder zu verteidigen. Viele, vor allem Ostdeutsche, wehren sich gegen die Folgen dieses Krieges, der zu mehr Armut führt, auch bei uns. Die Prognose der Wirtschaftsweisen sagt eine Rezession für das nächste Jahr voraus. Das heißt: Einbußen an Wirtschaftswachstum, weniger Steuereinnahmen, weniger Einkommen. Dagegen wehren sich verständlicherweise die Menschen. Aber das Abwehren und Protestieren ist noch nicht die Lösung. Die Politiker müssen Lösungen finden, diese werden aber nicht schmerzfrei sein.

Schaptke: Aber muss die Politik nicht Stellschrauben finden, damit die Schere zwischen Arm und Reich nicht noch größer wird?

Ich bin Sozialdemokrat, ich bin für gerechte Lastenverteilung, für gerechte Steuern. Stichwort Übergewinnsteuer: Es gibt Unternehmen, die gegenwärtig irrsinnige Gewinne machen, weil die Energiepreise durch Knappheit steigen. Diese Gewinne müsste man abschöpfen. Aber wer ist dagegen? Die FDP. Und die CDU ist auch nicht so richtig dafür. Beide sind demokratisch gewählte Parteien. Es gibt keine einfachen Stellschrauben, sondern das Drehen an den Stellschrauben ist selbst Gegenstand des demokratischen Streits zwischen den Parteien, die schließlich gewählt worden sind.

Schaptke: Aber genau deswegen ist es wichtig, dass Leute auf die Straße gehen und, neben den Wahlen, ihre demokratischen Rechte in Anspruch nehmen, ihren Unmut deutlich machen.

Ja, das ist das Recht der Bürger und es ist hoch verständlich. Doch Proteste sind noch nicht die Lösung.

Keseling: Warum geht man im Osten so viel schneller auf die Straße als im Westen?

Wir, die Ostdeutschen, haben in den 1990er Jahren dramatische Veränderungen erlebt. Diese Erfahrung macht unsicher und verführbar, empfänglich für populistische Angebote und scheinbar einfache Lösungsversprechen. Rechtsextreme und Populisten haben das erkannt. Und jetzt kommt die nächste heftige Welle von Veränderungen auf Menschen zu, die mit Mühe und Not die Veränderungen der 1990er-Jahre bestanden haben. Ich wünsche mir nur, dass meine Landsleute genau hinschauen, mit wem sie sich beim Protest gemein machen.

Rothe: Es werden bei den Protesten direkte DDR-Bezüge hergestellt, es ist von einer Corona-Diktatur die Rede, von gleichgeschalteten Medien.

Dieser Vergleich macht mich wütend. Diejenigen, die das auf der Straße schreien, vergessen, dass sie dasselbe in der DDR nicht hätten machen können, weil sie sonst ins Gefängnis gekommen wären oder ihren Beruf verloren hätten. Es ist schwer zu erklären, was da im Kopf passiert. Da wird die Wut so gesteigert, dass das Vergangene weniger bitter erscheint, als es damals wirklich war. Hinzu kommt ein verquerer Freiheitsbegriff, der vergisst, dass die eigene Freiheit und die Solidarität mit den anderen zusammengehören.

Keseling: Diese Wut haben auch junge Menschen, die im heutigen Ostdeutschland in einem demokratischen System aufgewachsen sind.

Prägungen und Mentalitäten entstehen langsam und verändern sich langsam. Dazu kommt die reale ostdeutsche Erfahrung, dass die Löhne und Gehälter niedriger sind als im Westen, und es in Ostdeutschland noch lange nichts zu vererben gibt. Das ist die Erfahrung einer wirklichen ökonomisch-sozialen West-Ost-Differenz, die wehtut.

Schaptke: Eine Ungerechtigkeit

Ja, das wird als Ungerechtigkeit empfunden, ist aber zunächst eine historisch erklärliche Differenz, eine Folgewirkung des DDR-Systems, die auch nach 30 Jahren trotz erheblicher finanzieller Anstrengungen noch nicht überwunden ist. Ärgerlich, traurig, bitter, aber ich würde nicht so schnell mit Schuldzuweisungen kommen. Damals sind 16 Millionen Ostdeutsche in das bundesdeutsche Sozialsystem „eingewandert”. Ein erfolgreiches und ein gescheitertes System kamen zusammen, das erklärt nachwirkende Unterschiede. Man muss wissen, dass z. B. die Rentenangleichung in Ostdeutschland zunächst vom westdeutschen Rentensystem finanziert werden musste.

 

Keseling: Helmut Kohl kannte die Ressentiments vieler Westdeutscher gegenüber den „Ossis”.

Jahrzehntelang wurde von der Mauer im Kopf geredet. Ich konnte das schon nicht mehr hören. Unterschiedliche Biografien wirken lange nach und es gibt ostdeutsche Besonderheiten, genau wie bayerische oder norddeutsche. Wir sollten lernen, sie als Buntheit und Bereicherung zu sehen, nicht als Nachteil. Aber das setzt ostdeutsches Selbstbewusstsein voraus, was angesichts der Ost-West-Differenzen schwerfällt.

Rothe: Apropos Buntheit und Diversität: Was ist mit Menschen mit Migrationshintergrund, wenn wir über die deutsche Einheit reden?

Deutschland ist seit 1990 noch viel pluralistischer geworden, in ethnischer, kultureller und religiös-weltanschaulicher Hinsicht. Das ist keine Idylle, sondern konfliktbeladen, denn es gibt unterschiedliche Interessen. Ich wünsche mir genauso wie im Verhältnis zwischen Ost und West, dass man diese Konflikte weniger im Tone von Schuldzuweisungen und Vorwürfen austrägt. Meine Lebenserfahrung ist: Je heftiger man mit Schuldvorwürfen angegriffen wird, umso mehr wehrt man sich dagegen. Ins Politische übersetzt: Um etwas für Minderheiten zu erreichen, muss man Mehrheiten gewinnen. Das gelingt aber nicht durch Beschimpfungen und Attacken.

Schaptke: Aber Minderheiten ein Forum zu geben, heißt nicht automatisch, der Mehrheit eine Schuld zuzuweisen.

Nein, aber ich nenne Ihnen einen Satz, der in der Debatte um Identitäten gefallen ist: „Weiß sein ist der Kern des Rassismus.“ Was ist das für ein Satz! Ich kann nicht aus meinem Weißsein aussteigen, ich kann nicht über meine Gene verfügen. Weil du weiß bist, bist du per se privilegiert. Das ist ein Frontalangriff.

Schaptke: Aber das stimmt.

Keseling: Aber deswegen ist man noch kein Rassist.

Ich bin sehr dafür, dass man Diskriminierungen und Benachteiligungen so konkret wie möglich benennt und bearbeitet – bei der Bildung, bei der Wohnungs- oder Arbeitsplatzsuche, bei der beruflichen Karriere. Aber man braucht dazu nicht unbedingt diesen Überbau der identitätspolitischen Ideologie. Ich bin dafür, dass wir mit Pluralität produktiv umgehen und gerechte Verhältnisse herstellen. Politisch gesagt: Die weitere Konfrontation auf dieser Ebene ist ein Überlebensprogramm für die AfD.

Schaptke: Minderheiten müssen aber oft erstmal laut werden, um gehört zu werden.

Darüber können wir reden. Ich sage aber: Betroffene sollen das erste Wort haben und wir haben die Pflicht, ihnen zuzuhören. Aber sie müssen nicht das letzte Wort haben. Das heißt, gemeinsam auf Lösungen zu kommen, wechselseitig Interessen und Befindlichkeiten zu berücksichtigen. Dieser berühmt-berüchtigte Essay von mir in der FAZ im Februar 2021 über identitätspolitische Konfrontationen war ein Appell zur Mäßigung – er wurde aber mit einer Aggressivität aus Betroffenen-Communities beantwortet, die meine These bestätigt hat. Die Zukunft unserer Pluralität entscheidet sich an der Art und Weise, wie wir unsere Differenzen austragen. Aber was wir beim Gendern erleben, ist keine Sprachentwicklung von unten, sondern eine Sprachverordnung von oben und von der Seite.

Keseling: Aber die Wessis haben ja auch irgendwann aufgehört, „Ossis“ zu sagen, weil die sich diskriminiert fühlten.

Nein, inzwischen reden viele von sich selbstbewusst als von Ossis. Ich hatte neulich eine Diskussion zu dem Thema in Rostock. Dort stand eine Frau auf und sagte, dass sie Ostdeutsche und „Ingenieur“ sei und auch ohne Gendersprache habe ihr Selbstbewusstsein bis heute nicht eine Sekunde gelitten.

https://www.morgenpost.de/berlin/article236568375/Abwehren-und-Protestieren-ist-noch-nicht-die-Loesung.html