Das Jahr 1974
Tu’s nicht
In meiner Erinnerung zählt das Jahr 1974 nicht zu den aufregendsten Jahren meines Lebens. 1961, 1968, 1976 und vor allem 1989 und 1990 waren erheblich dramatischer. Das Jahr 1974 dagegen war eher grau und gewöhnlich, jedenfalls ein unauffälliger Abschnitt meiner Biografie. Und das war bis 1990 eine DDR-deutsche Biografie.
Ich war 30 Jahre alt, und nachdem ich an der Berliner Humboldt Universität Kulturwissenschaft und Germanistik studiert hatte, als wissenschaftlicher Assistent im Bereich Kulturtheorie und Ästhetik der kulturwissenschaftlichen Sektion der Universität tätig. Ich hielt Seminare zur Einführung in die Ästhetik und in die Semiotik. Den Umgang mit Studenten fand ich vergnüglich und habe dabei viel selbst gelernt. Meine Kollegen waren alle SED-Genossen, in den gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen, zu denen meine Fächer in der DDR ja gezählt wurden, war dies das „normale“ personelle Umfeld.
Auch Ästhetik galt ja als Ideologie-Fach und war im Rahmen des staatsoffiziellen Marxismus-Leninismus zu betreiben. Dennoch und trotzdem eigenen intellektuellen Anspruch und wissenschaftliche Standards nicht gänzlich zu verraten, das war alltägliche und durchaus moralische Anstrengung. Dies verband den Nicht-Genossen Thierse mit manchem SED-Genossen. Ich erinnere mich vor allem an Wolfgang Heise, den Einzigen von meinen Professoren und Kollegen, den ich als meinen Lehrer bezeichnen würde. Heise war überzeugter und überzeugender weil kritischer Marxist und ein historisch und kulturell hochgebildeter Mann, befreundet mit vielen der wichtigen Schriftsteller und Künstler der DDR (durch den auch ich einige von Ihnen kennenlernen konnte), eine Schlüsselfigur des intellektuellen Diskurses in Ost-Berlin, unterhalb der Öffentlichkeit, am Rande der SED, deren Mitglied er bis zu seinem Tod 1987 geblieben war.
Als ich auch im Jahr 1974 wieder einmal zum Eintritt in die SED nachdrücklich gedrängt wurde, sagte Heise zu mir, im Vorübergehen und ganz leise: „Tu’s nicht, Wolfgang, es ist nichts für Dich“. Wir blickten uns kurz an und ich verstand sofort. Diese solidarische Bemerkung ist mir unvergesslich. Sie verriet viel über Heises Leiden an seiner Partei. Ich selbst war davor und erst recht danach nie in der Gefahr in „die Partei“ eintreten zu wollen, schließlich verstand ich mich als Christ und als linker Antikommunist.
Ich hatte 1973 geheiratet und wir hatten mit Mühe eine kleine Wohnung in Prenzlauer Berg erkämpft: zwei hintereinander liegende Zimmer, eine kleine Küche, ohne Bad, aber immerhin mit Innentoilette – in einem Hinterhaus-Seitenflügel in der Schönhauser Allee. Im Frühjahr 1974 haben wir mit Hilfe eines kräftigen Maurers zwei Fenster durch die mächtige Mauer zum jüdischen Friedhof durchgebrochen. Um die Zustimmung der jüdischen Gemeinde zu erhalten, musste ich versprechen, dass bei den Arbeiten keinerlei Steine und Schutt auf die Grabsteine fallen. Also habe ich alles die steilen Treppen eimerweise hinuntergetragen, der schlimmste Muskelkater meines Lebens war die Folge. Wir wurden in den folgenden Jahren zu besten Kennern dieses Friedhofs (ich hatte mir einen Schlüssel besorgt), auf dem das Berliner jüdische Bürgertum des 19. Jahrhunderts beerdigt worden war. Und wir wurden auch indirekte Zeugen von antisemitischen Friedhofsschändungen, wenn die Stasi uns aufsuchte und fragte, ob wir etwas gehört oder gesehen hätten. Am Schluss gab es immer die Anweisung, dass wir nichts über die Vorfälle verbreiten dürften. Das war der immer wieder unter den Teppich gekehrte Antisemitismus in der DDR. Später, in den 90er Jahren, habe ich den israelischen Botschafter Avi Primor über den Friedhof geführt und ihm anhand der Grabstätten die jüdische Geschichte Berlins im 19. und 20. Jahrhundert erzählt – vom ersten Juden in der preußischen Armee, über Giacomo Meyerbeer und Max Liebermann bis zu Vera Frankenberg, die als kleines Mädchen bei einem der Luftangriffe auf Berlin ums Leben kam, weil sie als „Halbjüdin“ nicht in den Luftschutzkeller gelassen wurde.
Die Miete unserer Wohnung war niedrig, der Preis aber hoch, nämlich die Hauswartsstelle. Für mehrere Jahre hatten meine Frau und ich zwei Treppenaufgänge und den Hof wöchentlich zu reinigen, bis sich endlich ein anderer Wohnungssuchender fand, der den gleichen Preis zahlen musste.
In unserem Seitenflügel entstand schnell eine echte Wohngemeinschaft, genauer: eine Notgemeinschaft gegen den DDR-typischen Mangel. Ewald hatte das Telefon, Wolfram und Christa hatten die Waschmaschine und wir hatten das Fernsehgerät. Anlässe genug, sich ständig zu begegnen, jeder hatte die Schlüssel zu den anderen Wohnungen. 20 Uhr Tagesschau: Das war die Treffzeit zum allabendlichen gemeinsamen Auswandern in den Westen! Via ARD (und ZDF) nahmen wir teil am politischen Geschehen in der Bundesrepublik und in der Welt. Wir, viele Ost-Deutsche, wussten deshalb viel besser über den Westen Bescheid als die meisten Westdeutschen über den Osten. Eine Schieflage, die nach 1989/90 auf schmerzliche Weise unübersehbar wurde. Auch die SED-Führung wusste damals, dass wir Bescheid wissen, und hat ihre Propaganda auf (und gegen) dieses Wissen ausgerichtet. Die Lektüre des „Neuen Deutschland“ des Zentralorgans der SED, wurde auf diese Weise für mich interessant. Die SED-Agitation reagierte auf ein Wissen, dass zu haben, sie zwar nicht verhindern konnte, aber doch wenigstens politisch-ideologisch umdeuten wollte. Das gilt für all die mir erinnerlichen Ereignisse des Jahres 1974.
Der Nahost-Konflikt (schon und noch im ganzen Jahr) mit dem traurigen Rücktritt der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir im April war Anlass für die DDR-Medien, den von der Sowjetunion verordneten Antizionismus propagandistisch zu exekutieren. Der ÖTV-Streik im Februar 1974 mit erstaunlichen Lohnsteigerungen – mir ist der den ganzen Fernsehbildschirm füllende Kopf Heinz Klunckers mit seinem mächtigen Hals unvergesslich – war für die SED-Propaganda Beleg dafür, wie unterdrückt die Arbeiterklasse in der BRD sei. Von der Zustimmung des Bundestages zum Atomwaffensperrvertrag im Februar 1974 und damit dem Verzicht auf den Besitz von Atomwaffen war nicht sonderlich viel die Rede in den DDR-Medien. Die Mordtaten der Roten Khmer in Kambodscha wurden gänzlich verschwiegen. Zur Ausbürgerung Alexander Solschenizyns aus der Sowjetunion im Februar und seine Aufnahme im Westen durch Heinrich Böll ist mir ein besonders hämischer Kommentar des bis dahin glänzenden Autors Peter Hacks (der sich später vollends als Stalinist erweisen sollte) in der Ostberliner „Weltbühne“ in Erinnerung: Solschenizyn als Laus im Pelz des tumben Heinrich Böll! Mit atemloser Erregung und Betroffenheit habe ich „Archipel Gulag“ gelesen. Das Buch war mir für zwei Tage geborgt worden, dann musste ich es weitergeben. So hat unsereins „illegale“ Literatur gelesen, zum Beispiel auch die Stalin- und Trotzki-Biografien von Isaac Deutscher.
Es gab aber auch Ereignisse des Jahres 1974 bei deren Bewertung ich beinahe mit den SED-Herrschaften übereinstimmte. Die Festigung der Pinochet-Diktatur in Chile verfolgte ich mit Abscheu. Der Militärputsch in Portugal, der Sturz der jahrzehntelangen Diktatur und die Befreiung der portugiesischen Kolonien – das war auch für mich Anlass für Begeisterung. Das Revolutionslied „Grandola villa morena“ ist lange in meinem politisch-musikalischen Gedächtnis geblieben. Auch das Ende der griechischen Militärdiktatur stimmte mich fröhlich.
In den innerdeutschen Beziehungen gab es erfreuliche Entwicklungen in diesem Jahr. Die Eröffnung der ständigen Vertretungen von DDR und BRD in Bonn und Ost-Berlin (ich habe diese niemals betreten, im Unterschied zu manchen DDR-Privilegierten) machte Hoffnung. Es folgten die Vereinbarungen über die Absenkung des Zwangsumtausches, den westliche Besucher entrichten mussten, und über Kredite für die DDR (das Swing-Abkommen). Das alles habe ich als vernünftige Schritte einer Entgiftung der deutschen Verhältnisse und zwar zugunsten von uns Ost-Deutschen, empfunden. Und es fügte sich ja in die weltpolitische Entwicklung: Der amerikanische Präsident Richard Nixon war im Juli in Moskau, sein Nachfolger Gerald Ford im November in Wladiwostok, um jeweils Abrüstungsschritte zu vereinbaren.
Am 6. Mai dann der Paukenschlag: der Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt! Mein Erschrecken, meine Trauer, die Erschütterung waren riesengroß, nicht nur bei mir, sondern auch bei den meisten DDR-Bürgern und wahrscheinlich ebenso bei der SED-Führung. Aber genau die hatte das doch zu verantworten, sie hatte den Spion Günter Guillaume auf Brandt angesetzt. Deswegen war die Wut bei vielen Menschen groß und die Sorge um die Zukunft der Entspannungspolitik auch. Brandt hatte sie eingeleitet, hatte Verträge mit Moskau, Warschau und auch mit der DDR geschlossen, die auf Frieden und Verbesserung der menschlichen Beziehungen zwischen West und Ost zielten. So war Brandt zum Hoffnungsträger einer ganz großen Mehrheit der Ostdeutschen geworden, er war, gewissermaßen, auch ihr Kanzler. (Auch ich bin ja wegen Willy Brandt und seiner Entspannungspolitik innerlich Sozialdemokrat geworden, viele Jahre bevor ich Mitglied der SPD werden konnte.)
Die Bilder von seinem Besuch 1970 in Erfurt und die begeisterten Rufe „Willy Brandt ans Fenster“ waren und sind ja nicht zu vergessen für Ostdeutsche meines Alters. Umso größer war die Empörung über diese elende SED. Deren Zentralorgan, das ND, schrieb: Die Regierung Brandt sei an den inneren Widersprüchen der BRD gescheitert, an den Krisenerscheinungen, unter denen die Bevölkerung leide. Beobachter seien sich einig, dass dies und nicht die „Spionageangelegenheit“ der Rücktrittsgrund für Brandt sei. Verlogen wie immer!
Es blieb das Gefühl eines tiefen Einschnitts. Und erinnerlich sind mir die Fernsehbilder von der Betroffenheit Egon Bahrs, der sein Gesicht hinter den Händen verbarg, als Herbert Wehner dem zurückgetretenen Kanzler einen Strauß roter Rosen überreichte. Es dauerte ein wenig, bis Helmut Schmidt die Brandt’sche Hoffnungsrolle übernehmen konnte, aber er hat wohl nie – auch im Osten – die gleichen heftigen Emotionen erzeugen können, die mit Willy Brandt verbunden werden.
Der Sommer 1974 – das waren die Fußballweltmeisterschaften in der Bundesrepublik. Und vor allem das Spiel BRD gegen DDR in Hamburg am 22. Juni. Ich habe mir das Match im Westfernsehen angeschaut und zwischendurch immer mal ins DDR-Fernsehen umgeschaltet, wegen der Kommentare. Das berühmte Sparwasser-Tor in der 77. Minute und damit der Sieg der DDR-Mannschaft haben mich zugleich (ein wenig) gefreut und (etwas mehr) geärgert. Gefreut, weil ich mich während des Spiels darüber geärgert habe, dass der Kommentator im Westfernsehen mit ganz selbstverständlicher Arroganz die westdeutsche Mannschaft als „die Deutschen“ bezeichnete, als wären die DDR-Spieler (also auch wir ostdeutschen Zuschauer) keine Deutschen. Geärgert, weil ich sofort und zurecht ahnte, dass dieses Tor, dieser Sieg ideologisch-propagandistisch ausgeschlachtet würde: das ewige 1:0 im Systemvergleich mit dem Klassenfeind. Umso größer war dann die Freude über den Endspielerfolg der bundesdeutschen Mannschaft und den Weltmeistertitel. Noch heute kann ich deren Mannschaftsaufstellung aufsagen, aber nicht die des DDR-Teams.
Anders als im Fußball zeigte sich die DDR gerade im Jahr 1974 als eine Weltmacht des Sports – gleich hinter, nein: neben den USA. Bei den Schwimm-Europameisterschaften im August in Wien errangen DDR-Sportler 16 Goldmedaillen in 34 Disziplinen. Die Stars waren Cornelia Ender und Roland Matthes, beides sehr sympathische Sportler. Die Bundesrepublik erreichte übrigens 4 Titel. Auch bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Rom war die DDR mit 10 Goldmedaillen das Spitzenteam in der Medaillenwertung. Ich habe gestaunt und war misstrauisch und wusste ja, dass die DDR Sport als Klassenkampf mit allen erlaubten und (wie wir heute sehr genau wissen) unerlaubten Mitteln betrachtete.
Das Jahr 1974 war auch das Jahr eines außenpolitischen Triumphes der DDR: die Anerkennung durch die USA und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen im September – vier Wochen nach dem schäbigen Abgang von Richard Nixon. Ab sofort verstand sich der SED-Staat noch mehr als die größte DDR der ganzen Welt. Und der kleine Honecker wuchs um einige Zentimeter.
Im gleichen Monat September beschloss die DDR-Volkskammer, dieses Scheinparlament, eine Änderung der Verfassung: Der Begriff der deutschen Nation wurde aus ihr entfernt und ebenso die deutsche Einheit als politisches Ziel. Dafür wurde die führende Rolle der SED und die unwiderrufliche Verbundenheit mit der Sowjetunion festgeschrieben. Das geschah rechtzeitig zum 25. Jahrestag der DDR und als tiefe Verbeugung vor dem angereisten KPdSU-Chef Breschnew.
Schon im Januar hatte die Volkskammer ein neues Jugendgesetz verabschiedet, in dem das Ziel der „Entwicklung der Jugend zu sozialistischen Persönlichkeiten“ formuliert wurde. Das war nichts gänzlich ideologisch Neues und doch neu, nämlich das nunmehr ganz offizielle Programm einer weltanschaulichen Erziehungsdiktatur! (Im Jugendgesetz von 1964 war noch von „Glaubens- und Gewissensfreiheit“ die Rede gewesen.
Das gehört zur Ära Honecker. Der war drei Jahre zuvor zum SED-Chef geworden, hatte schöne Zeiten versprochen, auch kulturpolitische Liberalisierung und das Schauspiel von Weltoffenheit und Jugendlichkeit 1973 inszenieren lassen, die Welt-Jugendfestspiele in Ost-Berlin. Nach zwei Wochen war’s vorbei. Und der kulturelle Alltag hatte uns wieder, das ganze Jahr 1974.
Aber dieser Alltag war für unsereins so wichtig wie man sich das im Westen wohl nicht vorstellen konnte und kann. Die Kultur – Literatur, Theater, Film, Bildende Kunst, Musik – war der Ort kleiner Freiheiten, war die Ersatzöffentlichkeit für kritische Diskurse der gesellschaftlichen Selbstverständigung, immer bedroht durch Zensur, durch ideologische Einmischungen, durch behördliche Eingriffe und Verbote. Es war trotz allem, so meine Erinnerung, ein reiches Kulturleben. Der Aderlass also der Weggang so Vieler nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 hatte noch nicht stattgefunden. Ich hatte jedenfalls viel zu lesen im Jahr 1974.
Ich bin ja damals in jeder Woche durch vier Buchhandlungen gegangen, um nachzusehen, was neu war, um keine Neuerscheinung zu verpassen und sie eventuell sofort zu erwerben. Denn Bücher waren gefragt, manche gar waren „Bückware“, die man nur zu Gesicht bekam, wenn man den Buchhändler gut kannte. Ich habe nachgeschaut: In meinen Bücherregalen finden sich eine ganze Reihe 1974 in der DDR erschienener Werke. Es sind besonders viele Gedichtbände – von Volker Braun, Heinz Czechowski, Adolf Endler, Michael Franz, Rainer Kirsch, Günter Kunert… Und für die Literaturgeschichte der DDR wichtige Prosabände und Romane. Von Brigitte Reimann, die im Jahr zuvor verstorben war, erschien der Raman „Franziska Linkerhand“, ein überraschend DDR-kritisches und deshalb sehr erfolgreiches Buch. Von Franz Fühmann wurde „Prometheus. Die Titanenschlacht“ publiziert, der Ausflug aus der DDR-Enge in den Mythos. Stefan Heyms überarbeiteter Roman über den 17. Juni 1953 durfte nicht in der DDR veröffentlicht werden, sondern erschien 1974 nur im Westen. Dieses Verbot widerlegte die Hoffnung auf großzügige Liberalisierungen nach der Honecker’schen Ankündigung es solle keine Tabus mehr geben. Zum Trost für Heym und für die DDR-Leser wurde sein Roman „Lassalle“ und seine historische Parabel „Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe“ veröffentlicht. Von Christa Wolf gab es „Unter den Linden“, ein Erzählungsband mit Illustrationen des wunderbaren Malers Harald Metzkes, unseres Nachbarn um die Ecke.
An der Ost-Berliner Volksbühne war eine Szene von Heiner Müllers neuem Theaterstück „Die Schlacht“ zu sehen, eine sarkastische Farce über die Nazi-Volksgemeinschaft“, in der Tradition von Bertolt Brechts „Furcht und Elend des dritten Reichs“ aus dem Jahr 1938. Das vollständige Stück wurde dann – wohl nachdem die SED-Kulturbürokraten sich von dem Schock erholt hatten – im folgenden Jahr aufgeführt. Wir Literatur- und Theaterhungrigen in der DDR verfolgten natürlich auch und mit gleichbleibender Neugier Berichte (und Gerüchte) über legendäre Theateraufführungen im Westen. Die großen Peter Stein, Claus Peymann, Dieter Dorn, Klaus-Michael Grüber, Peter Zadek waren uns also ein Begriff, denn ganz so provinzlerisch wie eingesperrt sind wir dann doch nicht gewesen.
Und schließlich Wolf Biermann! Dessen Texte kannte ich – illegal vervielfältigt oder aus dem Westen heimlich mitgebrachte Quarthefte – seit den 60er Jahren. Biermann, der über so viele Jahre Verbotene, war der einzige wirklich radikal Mutige in der Kulturszene der DDR. 1974 sollte er den Jaques-Offenbach-Preis der Stadt Köln erhalten. Die Reise zum Empfang des Preises wurde ihm verwehrt, es sei denn, er verzichtete auf die DDR-Staatsbürgerschaft. Zwei Jahre später, im November 1976, wurde ihm nach einem Konzert in Köln tatsächlich die Staatsbürgerschaft aberkannt, ein seit der Nazi-Zeit nicht mehr geschehener Vorgang. Die Folgen dieser fatalen Entscheidung, die Erschütterung des kulturellen Lebens reichten bis zum Ende der DDR. Dieses Ende allerdings ließ leider noch endlos lange 15 Jahre auf sich warten.