Unterschrift Wolfgang Thierse

2. April 2022

 
2. April 2022

Um des lieben Friedens willen?

 

Warum ich den Appell gegen die Hochrüstung nicht unterschreiben kann.

Beitrag in der FAZ von Wolfgang Thierse

Was ist passiert am 24. Februar und seither? Das Undenkbare, das Unfassbare: ein brutaler Krieg in Europa, auf unserem Kontinent, der in den vergangenen Jahrzehnten in einer unruhigen Welt so glimpflich davongekommen war! Das ist ein historischer Einschnitt. Es gibt keinen anderen Vergleich: Wie Hitler-Deutschland 1939 das Nachbarland Polen überfallen hat, so führt Putin-Russland einen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland Ukraine. Und verletzt alle Regeln und Verträge, die bisher die europäische Friedensordnung ausgemacht haben, missachtet das internationale Recht, zerstört mit der Ukraine auch den europäischen Frieden.

Putin begeht Brudermord. Die Zahl der Toten ist unbekannt, die Zahl der Flüchtlinge geht in die Millionen, die Zerstörungen der Städte und Dörfer sind unüberschaubar, das Leid der Menschen ist endlos. Die Bilder machen traurig und zornig und verzweifelt. Sie müssen Anlass für Nachdenken sein – über die westliche, die europäische Politik, über Friedensethik, Friedensbewegung, Friedenspolitik.

Einen Krieg (wenigstens) in Europa zu verhindern, das war unser Ziel, das Friedensbewegung und europäische Politik geeint hat. Es ist misslungen! Was sind die notwendigen Konsequenzen aus dieser bitteren Niederlage? Dieser Frage haben wir uns zu stellen. Wer als Pazifist angesichts der Bilder aus der Ukraine ohne Selbstzweifel, ohne Irritation bleibt, hat wohl kein empfindliches Herz. Wer allzu schnelle Antworten hat, dem fehlt es vielleicht an Klugheit.

Ich war bei den großen Berliner Demonstrationen gegen Putins Krieg dabei und habe unterschiedliche Plakate gesehen, auch solche: „Soldaten sind Mörder“, „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ oder „Frieden schaffen ohne Waffen“. Die Losungen der alten Friedensbewegung wirken aus der Zeit gefallen, mindestens gedankenlos, und Ukrainern müssen sie zynisch vorkommen.

Gerade die Friedensbewegung sollte sich der Erschütterung durch diesen Aggressionskrieg Putin-Russlands stellen und nicht trotzig an alten Gewissheiten und Glaubenssätzen festhalten. Das Konzept des gerechten Friedens, der friedensethische Grundsatz: Konfliktursachen erkennen, bearbeiten, ihre friedliche Lösung ermöglichen – das ist nicht einfach erledigt. Aber wir müssen uns fragen, was die guten alten Konzepte und Grundsätze noch taugen angesichts eines völkerrechtswidrigen Krieges. Und ob dieser Krieg nicht die Koordinaten für die Friedenspolitik geändert hat.

Die Friedensbewegung jedenfalls wird nur glaubwürdig bleiben, wenn sie sich der bitteren Tatsache stellt: Es waren die Schwäche und Uneinigkeit des Westens und die Schutzlosigkeit der Ukraine, die von Putin als Aggressions-Ermunterung (miss-)verstanden werden konnten, werden mussten! Das Afghanistan-Fiasko machte deutlich sichtbar, dass Amerika nicht mehr als globale Ordnungsmacht gelten könne. Dass die Ukraine 1994 ihre Atomwaffen an Russland (gegen die Garantie der Unverletzlichkeit ihrer Grenzen durch Russland) abgegeben, die Wehrpflicht abgeschafft hatte und auf unabsehbare Zeit gerade nicht NATO-Mitglied geworden war, machte sie zum scheinbar leichten Opfer für Putins großrussische Ambitionen. Putin wusste, dass die NATO nicht eingreifen würde. Das Ergebnis ist ein blutiger Krieg, der eben nicht durch eine Aggressivität der NATO provoziert worden war, sondern ideologisch begründeter geopolitischer Aggressivität Putins geschuldet ist.

Ja, der Westen ist eine Gefahr für Putin-Russland – weil Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand von lebensgefährlicher Attraktivität sind für Putins autoritär-diktatori­sches Regime in der Tradition des Zarentums und Stalins. Diese Gefahr war näher gerückt durch die Orangene Revolution und den Maidan, durch die (unterdrückte) Demokratiebewegung in Belarus. Sie droht aus den baltischen Staaten und aus den mittelosteuropäischen Ländern, die einst zum Sowjetsystem gehörten. „Der Zusammenbruch der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“, hat Putin vor zwanzig Jahren verkündet. Sollten wir mit Nicht-Unterstützung der Ukraine reagieren – um des lieben Friedens willen, um der großen Zahl der Opfer willen? Mit Nicht-Aufrüstung? Von sich selbst mag man vernünftige Wehrlosigkeit verlangen können. Aber von anderen? Das wäre Pazifismus auf Kosten anderer. Das wäre nur eine Solidarität des eigenen Wohlgefühls.

Reicht es, Putins Krieg zu verurteilen und gegen ihn zu demonstrieren? Für viele von uns, gewöhnliche Leute ohne Macht, muss dies wohl reichen. Aber gilt dies auch für die deutsche und europäische Politik, die Politik des Westens?

Wie gerne würde auch ich, wie so viele, den schönen Appell gegen die „Hochrüstung“ unterschreiben, aber mir fehlen die Gewissheiten. Mehr denn je ist mir die Ambivalenz des Pazifismus bewusst geworden. Mehr denn je zweifle ich, ob die eigene Friedfertigkeit ausreicht gegen die Aggressivität eines anderen, der bereits zur Tat geschritten ist.

Ausgerechnet der Präsident Finnlands, des neutralisierten Nachbarn Russlands sagt: „Wer gehört werden will, muss Macht haben!“ Das erinnert an die Entspannungspolitik der Sechziger- bis Achtzigerjahre. Ich halte sie – gegen alle flotten Vorwürfe – für eine Erfolgsgeschichte. Denn sie gehört zu den Voraussetzungen für die glückliche Wendung der europäischen Geschichte 1989/90, für das Ende des Sowjet-Kommunismus und die Überwindung des kalten Ost-West-Systemkonflikts.

Willy Brandts Entspannungspolitik basierte auf westlicher Stärke

Gegen mögliche Entspannungsromantik wie auch gegen Kalte-Kriegs-Nostalgien sollten wir uns jedoch daran erinnern, dass die Entspannungspolitik, wie sie von Willy Brandt und Egon Bahr gestaltet worden ist, zwei Voraussetzungen hatte: einerseits die Stärke des Westens, das Abschreckungspotential der USA und andererseits die Bereitschaft der Sowjetunion, sich auf Verhandlungen und Kooperationen einzulassen; denn die UdSSR war eine konservative Macht geworden, der es nicht mehr um Expansion ging, sondern um – so die Breschnew-Doktrin – die Absicherung des eigenen Machtbereichs. Auf dieser Basis konnte das Konzept des „Wandels durch Annäherung“ und der „Sicherheit nicht gegeneinander, sondern miteinander“ erfolgreich werden, konnten Kooperationen vereinbart werden – bis hin zur „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ mit der Helsinki-Schlussakte.

Es war nach 1945 der erste große Schritt zu einer europäischen Friedensordnung, die an die Stelle des gefährlichen, weil immer labilen Gegeneinanders, des Gleichgewichts des Schreckens, trat. Das war gute Politik. Denn nicht Krieg, nicht Panzer und Bomben haben zum Zusammenbruch des Ostblocks geführt, sondern „Softpower“ und die ökonomische Kraft des Westens und die Opposition, die Bürgerbewegungen des Ostens, die sich auf die KSZE-Ver­einbarungen berufen konnten. Ohne Gorbatschow, der die Konsequenzen aus der wirtschaftlichen Schwäche des Sowjetsystems zog und die Idee des „gemeinsamen Hauses Europa“ entwickelte, wäre der friedliche Übergang nicht möglich gewesen. Es folgte 1990 die Charta von Paris, die die neue Friedensordnung Europas ausrief, zu der die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Souveränität der Staaten und die Bündnisfreiheit gehörten. Es folgten die Vereinbarungen von 1994 und 1997. Sie alle tragen die Unterschrift Russlands.

Dieses friedliche Kapitel der europäischen Geschichte ist von Putin abrupt beendet worden. Bis zum 24. Februar konnten wir Deutsche meinen, dass wir von Freunden umzingelt sind. Bis zum 24. Februar konnten wir Europäer glauben, dass Vereinbarungen gelten, dass wirtschaftliche Verflechtungen friedenssichernde Wirkungen haben und gute Sicherheitspolitik sind. (So wie ja auch die westeuropäische Einigung seit den Fünfzigerjahren wirtschaftliche Verflechtung als Basis hatte.) War es naiv, blauäugig, weltfremd, auf das Konzept gemeinsamer Sicherheit zu setzen? War es gutgläubig, mit Russland und mit Putin im Gespräch zu bleiben? Sind die Versuche falsch gewesen, weil sie jetzt gescheitert sind? Nein, sie waren der Mühe wert um des Friedens willen. Es waren Putins Lügen und Täuschungen, sein ver­brecherischer Krieg, die aus unseren berechtigten europäischen Hoffnungen böse Illusionen gemacht haben: dass Europa ein dauerhaft friedlicher Kontinent werden und sein könnte.

Die Enttäuschung darüber sollte nicht dazu führen, alle bisherige Politik moralisch zu verdammen, alle Ideen, Konzepte, Instrumente der Entspannungspolitik in die Rumpelkammer der Geschichte zu kippen. (Vielleicht werden wir einige nach dem Krieg wieder brauchen?) Zu fragen ist aber: Warum haben wir Putins Worte und Taten nicht ernst genug genommen? Seine Rhetorik und Ideologie waren in ihrer sich steigernden Aggressivität unüberhörbar! Seine Blutspur reicht von Tschetschenien, Georgien, Syrien, der Annexion der Krim und des Donbass nun bis zur Ukraine! Dafür den Westen verantwortlich zu machen, wie das von manchen auf friedensbewegter und linker Seite geschieht, erscheint mir als gefährliche Realitätsverweigerung. Nein, das ist die unabweisbare Lektion: Ahnungslosigkeit und Wehrlosigkeit wirken auf einen möglichen Aggressor nicht abschreckend, im Gegenteil!

Der Kriegsschock sollte dazu führen, dass die Friedensbewegung selbstverständliche Gewissheiten überprüft. Das gilt für die antiamerikanischen Ressentiments, deren Tradition bis in die Zeit der Proteste gegen den Vietnamkrieg zurückreicht. Das gilt für die Arroganz gegenüber den existenziellen Ängsten unserer ostmitteleuropäischen Nachbarn vor einem übermächtigen, aggressiven Russland. Wir sollten jedenfalls, auch wenn es wehtut, die Kritik aus Polen, den baltischen Ländern und der Ukraine ernster nehmen. Das gilt schließlich generell für einen Pazifismus, dessen Folgen andere zu tragen haben.

Ein selbstkritischer Pazifismus erkennt an, dass für eine friedliche Welt Freiheit, Demokratie, Menschenrechte keine Luxusgüter sind, gerade weil sie global so angefochten sind. Ein historisch aufgeklärter Pazifismus erkennt an, dass es wirklichen Frieden nicht ohne Recht gibt, dass Frieden eine Funktion von Recht ist, dass also Frieden den Einsatz von Stärke gegen Unrechtsregime verlangen kann. (Hitler-Deutschland ist das überzeugendste Beispiel für diesen Zusammenhang.) Ein ernüchterter Pazifismus erkennt an, dass eine stabile Friedensordnung nur eine regelbasierte Ordnung sein kann, eine Welt der Verträge und des Völkerrechts, deren Einhaltung und Durchsetzung auch Pazifisten angehen muss.

Selbstverteidigung ist das Recht souveräner Staaten

Aber was bedeutet das angesichts eines Aggressors, der über Atomwaffen verfügt und möglicherweise bereit ist, sie einzusetzen? Angesichts dessen verbieten sich Abenteuer der Parteilichkeit. Es gibt leider eine schmerzliche Asymmetrie in der Gewaltbereitschaft. Putin-Russ­land setzt modernste Waffen ein, bombardiert Städte, zivile Ziele und droht mit Atomwaffen. Auch deshalb können und wollen die NATO und die EU nicht mit gleichen Mitteln reagieren. Die Einrichtung einer Flugverbotszone, von der Ukraine so heftig gefordert, würde einen nicht mehr begrenzten Krieg, ja einen Weltkrieg bedeuten. Deren Ablehnung war bitter-ver­nünftig. Insofern verhält sich der Westen durchaus pazifistisch. Und zugleich empfinden wir die schmerzliche Notwendigkeit militärischer Zurückhaltung mit den Augen der Ukrainer als unerträglich. Wenigstens unterstützt der Westen die Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine. Selbstverteidigung ist nach der UN-Charta ein Recht souveräner Staaten!

Was folgt nach dem Ende des Krieges, dem unsäglichen Leiden und Elend, das fortwirken wird? Putin ist ein Kriegsverbrecher. Ein Verbrecher, der über Atomwaffen verfügt, deshalb kann er nicht ignoriert und militärisch nicht besiegt werden. Das ist die Tatsache, die weder hinwegdemonstriert noch hinweggebetet werden kann. Wie aber soll man mit einem Lügner und Verbrecher wieder verlässliche Vereinbarungen treffen? Ich weiß es nicht. Aber trotzig meine ich: Diplomatie muss wieder zu ihrem Recht (!) kommen! Wenn die Waffen schweigen, muss es wieder um Politik gehen!

Putin ist nicht gleich Russland. Das dürfen wir trotz all unserer wütenden Enttäuschung nicht vergessen. Neu-alte Blockbildungen, geopolitische Antagonismen globaler Art: Sind sie unausweichlich? Vielleicht. Sind sie einer friedlichen Welt förderlich? Wohl nicht. Können sie das Ziel europäischer, westlicher Politik, gar von Friedenspolitik sein? Gewiss nicht. Also wird es wieder und neu um das mühselige Geschäft von Abrüstungsanstrengungen gehen, um Transparenz- und Kontrollregeln, vor allem für Atomwaffen, für biologische und chemische Kampfstoffe, für Cyberwaffen. Die Gefahr eines neuerlichen Wettrüstens ist riesig. Es muss dabei auch bleiben, dass Sicherheit mehr ist als militärischer Schutz. Also wird es wieder um wirtschaftlichen Austausch, um Modernisierungskooperationen mit Russland gehen, um wissenschaftlichen, kulturellen und vor allem auch zivilgesellschaftlichen Austausch. Wir dürfen nicht alles der Logik der Konfrontation unterwerfen, sondern sollten begreifen, dass die innere Zivilität und Liberalität unserer Gesellschaften Teil der „Wehrhaftigkeit“ des demokratischen Westens sind.

Die (Wieder-)Herstellung einer verlässlichen, nicht nur europäischen, sondern globalen Friedensordnung ist Voraussetzung dafür, dass sich die Welt den eigentlichen Menschheitsproblemen des einundzwanzigsten Jahrhunderts erfolgreich widmen kann: dem Klimawandel, der Umweltzerstörung, der weltweiten Armut und sozialen Ungerechtigkeit. Wie auch die Lösung dieser Aufgaben Voraussetzung für globalen Frieden ist. Die Selbstverteidigungsfähigkeit des demokratischen Europas und seine Kooperationsbereitschaft sind gleichermaßen notwendige und vernünftige Beiträge zu einer neu zu gewinnenden globalen Friedensordnung.