Wolfgang Thierse im Gespräch mit Wiebke Hollersen und Sabine Rennefanz..
Wolfgang Thierse arbeitet in einem Haus, durch dessen Wände und Decken sich Risse ziehen. Das Schadowhaus in Mitte, benannt nach dem Schöpfer der Quadriga auf dem Brandenburger Tor, ist vor einigen Jahren saniert worden und steht unter Denkmalschutz. Aber es steht auch zwischen zwei Baustellen, hat wohl die Erschütterungen nicht vertragen. In seinem Büro beschäftigen Thierse noch ganz andere Risse. Bei dem Streit um Identitätspolitik ist der langjährige SPD-Politiker zwischen die Fronten geraten. Herr Thierse, Ihr Beitrag in der FAZ hat eine Debatte über Identitätspolitik ausgelöst. Warum haben Sie den Text geschrieben? Ich habe verschiedene Beobachtungen zur aggressiver gewordenen politischen Debattenkultur zusammengetragen, erst in einem Interview für die Zeitschrift „Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte“, die ich mitherausgebe, daraus entstand der Essay. Über die Reaktionen auf diesen Text bin ich erschrocken und überrascht, über den Shitstorm auf der einen Seite, über die überwältigende Zustimmung auf der anderen Seite. Sie schreiben, dass die Debatten um Gender, um geschlechtliche Identitäten, um Postkolonialismus in einer pluralen Gesellschaft schärfer werden und fürchten die Spaltung. Was schlagen Sie vor? Ich bitte darum, so zu kommunizieren, dass die Fronten nicht verschärft und nicht zu falschen werden. Wir leben in einer pluralistischen, vielfältigen Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft ist keine Idylle, sondern steckt voller Streit und Konfliktpotenzial. Und weil das so ist, muss sie sich immer neu verständigen über das Gemeinsame, das Verbindende, das Verbindliche. So viel Anstrengung wir im Kampf für Diversität verwenden, genau so viel Anstrengung müssen wir auf das Verbindende richten. Das ist die Intention meines Textes. Es kommt vor allem auf den Ton an? Alle Gruppen, alle Minderheiten haben das Recht, um politische, soziale, rechtliche Gleichheit zu kämpfen, bei Anerkennung kultureller Verschiedenheiten. Aber wie dieser Kampf ausgefochten wird, ist wichtig. Ich sehe doch, dass es falsche Frontenbildung gibt. Das wird gewissermaßen durch jeden Shitstorm bestätigt. Umso bestürzter bin ich, dass zum Teil ganz heftig auf meinen Text reagiert wird. Mir wird mangelnde Empathie vorgeworfen, Homophobie, Rassismus, ohne dass dies aus einer einzigen Zeile meines Textes begründet werden kann. In der Zeit haben Sie gesagt, Sie sind zum Symbol geworden für viele normale Menschen, die sich nicht mehr mitgenommen fühlen. Symbol war etwas salopp gesagt. Ich meinte, dass ich über tausend Mails bekommen habe. Aus allen Teilen der Gesellschaft, einfache Arbeiter, prominente Professoren, Journalisten, Schwule, Muslime, ein wirklicher Querschnitt. Und auch viele Sozialdemokraten. Die Menschen erzählen mir in Kurzfassung ihre Lebensgeschichte. Es ist irritierend, dass fast alle sich bei mir bedanken für meinen Mut. Ich habe mich doch nicht eine Sekunde als mutig empfunden, als ich das geschrieben habe. Sie bedanken sich, dass endlich einer ausspricht, „was uns bedrängt“, „was uns unsicher macht“, „was wir nicht zu sagen wagen“. Fragen Sie mich mal gleich nach dem kleinen Wörtchen „normal“. Ich beobachte eine Spaltung der Sprache. Auf der einen Seite die Sprache, die an Universitäten, in Redaktionen gesprochen wird, von Menschen, die den Ansprüchen von minderheiten- und gendersensibler Sprache folgen. Und auf der anderen Seite „das dumme Volk“, das so weiterredet wie bisher. Das sich bedrängt fühlt durch das, was ihm via Fernsehen, Radio, Zeitungen an Sprachnormen vorexerziert und wie viele meinen, auch aufgezwungen wird. Offensichtlich erleben viele: Was soll ich noch sagen und tun, es ist irgendwie alles verdächtig und falsch. Ich wünsche mir mehr Vertrauen in die natürliche Entwicklung von Sprache. Was ist nun mit dem Begriff „normale Menschen“ passiert? Man muss sich inzwischen sowas von auf die Zunge beißen. Ich habe das Wort normal im Sinne von gewöhnlich, alltäglich verwendet. Diese Bedeutung hat es im Deutschen auch. Ich habe noch nie in einem Laden gehört, dass einer nach der Geschäftsführer_in gefragt hat. Jetzt wird mir vorgehalten, ich würde mit diesem Begriff Menschen ausgrenzen. Das ist das Gegenteil meiner Intention. Woher kommt das Ihrer Meinung nach, dass vieles heute so missverstanden wird?
Erstens, das Internet hat die Kommunikation verändert. Dort kann man unter sich bleiben und die eigene Meinung bis zum immer radikaleren Vorurteil bestätigt bekommen. Zweitens, es gibt eine kulturelle Verschiebung in der Kommunikation. Betroffenheit ist ein höherer Wert geworden, die eigene Wahrnehmung, erst recht wenn man sich als Opfer empfinden kann. Damit erreicht man einen höheren moralischen Status, bis hin zum Anspruch auf Wahrheit. Doch nicht die eigene Betroffenheit beweist schon, dass man recht hat, sie muss ins Argument übersetzt werden. Dies ist die Anstrengung, die seit der Aufklärung von uns verlangt werden kann. Was unterscheidet Interessenvertretung von Identitätspolitik? Identitätspolitik gab es im weiten Sinne des Begriffs schon immer. Natürlich hat die Arbeiterbewegung die Interessen der Arbeiter vertreten. Mit dem Anspruch, mit der Emanzipation der eigenen Klasse die Emanzipation der Gesellschaft zu erreichen. Das mag illusionär gewesen sein. Interessenvertretung, der Kampf um Wahrnehmung, da möchte ich ausdrücklich sagen: Das ist links, das ist demokratisch, da bin ich als Sozialdemokrat dabei. Das Problem ist die Radikalisierung, die Fundamentalisierung. Aktivisten, die gegen Rassismus kämpfen, würden sagen, dass sie die gesamte Gesellschaft voranbringen wollen. Das Problem ist, dass das in einer Weise geschieht, die die andere Seite sofort ins Unrecht setzt. Hätten Sie sich mehr Respekt in den Reaktionen gewünscht? Ich könnte darauf hinweisen, dass ich einer der ersten Spitzenpolitiker war, die den Rechtsextremismus als Gefahr ernst genommen haben, ich bin in Sachsen und Thüringen unterwegs gewesen und hab junge Leute in Jugendclubs besucht, die Angst vor rechten Schlägern hatten. Ich war einer der ersten Spitzenpolitiker, der auf einem CSD aufgetreten ist. Ist alles lange her. Aber das Wissen darum könnte doch dazu führen, dass man sich bei bestimmten Beschimpfungen bremst. Man würde Ihnen entgegnen, dass der Kampf auch dem Rassismus in der Mitte der Gesellschaft gelten müsse? Richtig. Ich bin sehr dafür, dass man ganz konkret Rassismus bekämpft, immer. Aber ich weiß nicht, was Sie von dem Satz halten: „Auch, wenn man weiß ist, ist man von Rassismus betroffen: Weil man privilegiert ist und man auf der Seite der Schuldigen steht.“ Von wem ist das Zitat? Das sagt die Autorin Mithu Sanyal in einem Interview. Aber das ist ja nur ein Beleg. Wofür? Für den neuen Ton in der Debatte. Je frontaler der Angriff ist auf die, die man Mehrheit schon gar nicht mehr nennen darf, desto größer die Abwehr. Um Rechte für Minderheiten zu erkämpfen, braucht man aber Mehrheiten! Deshalb ist mein fast schon flehentlicher Appell, die Auseinandersetzung zu entschärfen, zu entgiften. Und nicht zu meinen, wenn einer genau darum bittet, sei er schon reaktionär und rassistisch. Würden Sie sagen, dass es strukturellen Rassismus nicht gibt? Wenn Sie damit meinen, dass dieses Land auf eine bestimmte Weise geschichtlich geprägt ist: Das ist es, ja. Über konkrete Dinge muss man reden. Über Benachteiligungen bei der Wohnungssuche, bei Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Aber nicht über jeden, der einen anderen fragt: Wo kommst du her? Das ist meist die Anbahnung eines Gesprächs, aber inzwischen meist schon verdächtig. Weil manche es als rassistisch empfinden. Darf ich das Empfinden anderer dagegensetzen? Sie haben als ostdeutscher Sozialdemokrat auch eine Identität, die Sie in Ihrem politischen Denken und Handeln prägt. Selbstverständlich. Jeder Mensch hat verschiedene Identitätsprägungen. Ich bin nicht nur Ostdeutscher, nicht nur Sozialdemokrat, nicht nur Christ, nicht nur ein Mensch der Literatur, ich bin auch noch Fußballfan und andere ziemlich normale Sachen. Und ich habe gelernt, dass ich keinen dieser prägenden Faktoren verabsolutieren darf. Zu den Ostdeutschen habe ich immer gesagt, übertreibt nicht in der Weise, dass ihr euch zum Opfer stilisiert. Ja, die eigenen Interessen artikulieren, Verbündete gewinnen – aber nicht den Ost-West-Gegensatz pflegen, der unproduktiv ist und nicht stärkt. Mit diesem Ansatz sind die Ostdeutschen in den letzten dreißig Jahren nicht so weit vorangekommen, wie man es sich wünschen würde. Sie wissen doch auch, dass die Ostdeutschen in gewisser Weise eine Konstruktion sind. Irgendwann muss man sich fragen, wann ist einer noch ostdeutsch? In Führungspositionen in Deutschland, auch im Osten, sind Menschen, die im Osten geboren wurden, bis heute kaum vertreten. Es gibt nur eine ostdeutsche Universitätspräsidentin, Gesine Grande, in Cottbus. Das stimmt nicht, ich kenne persönlich mehrere ostdeutsche Universitätspräsidenten. Cornelius Weiss zum Beispiel, ein Ostdeutscher, war in Leipzig Universitätspräsident. Von 1991 bis 1997. Im Übrigen gab es Thierse, Gauck, Merkel, wird das alles übersehen oder sind das keine Ostdeutschen mehr? Wir sagen nur, dass Ostdeutsche bis heute unterrepräsentiert sind in Spitzenjobs. Das ist doch nicht zu bestreiten. Aber das liegt erstens daran, dass die friedliche Revolution in der DDR in einer Übernahme des westdeutschen Systems endete. Daraus folgte, dass bei dem unausweichlich zu einer Revolution gehörendem Personalwechsel in die freiwerdenden Positionen Leute mit der Erfahrung des westlichen Systems kamen. Das hat Folgewirkungen, die brachten ihre Netzwerke, ihre Personalkenntnisse mit. Aber ich bezweifle, dass man das mit einer Quote korrigieren kann, um zum Thema der Identitätspolitik zurückzukommen.
Was haben Sie gegen Quoten? Ich habe allen Quotenforderungen für Frauen immer zugestimmt. Das ist offensichtlich ein notwendiges Instrument, so wie die Quote für Menschen mit Behinderungen, die
auf eine extreme Weise benachteiligt und wenig sichtbar sind. Eine Quote für Menschen, wie darf man das noch sagen ...... mit Migrationshintergrund? Da fängt es an, kompliziert zu werden. Wie lange geht man da zurück? Und müsste man dann Jung/Alt, Ost/West quotieren? Protestanten, Katholiken, Muslime, Juden, Atheisten? Alle haben den verständlichen Anspruch auf Repräsentation. Aber wie soll dabei Demokratie lebendig bleiben? Wie geht es mit Ihnen und der SPD weiter? Inzwischen haben wir miteinander gesprochen, die Sache ist als persönliches Thema für mich wirklich erledigt. Ich bleibe natürlich.
Und ich füge ausdrücklich hinzu: Ich unterstütze Olaf Scholz, der ein paar Tage später in der FAZ einen Beitrag veröffentlicht hat unter dem Titel „Respekt“. Ich halte das für den Schlüsselbegriff einer sozialdemokratischen politischen Konzeption. Fehlt es in der Auseinandersetzung mitunter auch an Humor? Gewiss. Aber in Situationen zugespitzter Betroffenheit ist Humor eine besondere Leistung. Und
wehe, wenn ein Politiker ironisch wird. Das kam jetzt auch noch mal hoch: Ich sei ein Identitätshasser gegen die Schwaben. Wegen zweier Bemerkungen, über die jeder Berliner gelächelt hat. 2012 fragten Sie sich, ob die nach Prenzlauer Berg gezogenen Schwaben die Kehrwoche einführen und Sie beim Bäcker noch nach Schrippen fragen dürfen. Sie wohnen seit Jahrzehnten am Kollwitzplatz. Bekommen Sie da heute noch Schrippen? Es gibt noch zwei, drei Bäcker, die Ostschrippen haben. Da ist die Schlange immer länger als bei den anderen. Aber hinter dem Interview
damals steckte etwas anderes, dasThema der Verdrängung.
Das Gespräch führten Wiebke Hollersen und Sabine Rennefanz.