Rede von Wolfgang Thierse am 10. Februar 2011 im Deutschen Bundestag anlässlich der Beratung des Antrages „Demokratieinitiativen nicht verdächtigen, sondern fördern – Bestätigungserklärung im Bundesprogramm ´Toleranz fördern - Kompetenz stärken` streichen“ der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen:
Seit 2002 fördert die Bundesregierung eine mittlerweile vielfältige, bunte und lebendige Landschaft zivilgesellschaftlicher Initiativen und Projektträger, die sich in ihren Städten und Gemeinden für eine Stärkung der demokratischen Kultur einsetzen. Diese Bundesförderung war von Anfang an vor allem von einem Grundgedanken getragen: dem Gedanken des Vertrauens. Der Bund stellte Fördermittel für zivilgesellschaftliche Initiativen bereit und vertraute darauf, dass sie selbst am besten wissen, welche lokalen Handlungsstrategien den demokratischen Gemeinsinn am ehesten aktivieren und den Rechtsextremen Einhalt gebieten können.
Unsere Demokratie bedarf gerade in der Auseinandersetzung mit dem Extremismus des alltäglichen Engagements der demokratischen Bürger. Deshalb ist es geradezu absurd, dass das Bundes-familienministerium den Leitgedanken der bisherigen Programme – ich wiederhole: Vertrauen in das demokratische Engagement der Bürger – nun ins Gegenteil verkehrt. Das Familienministerium verlangt von den Antragstellern, dass sie sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen und darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass dies auch für eventuelle Kooperationspartner gilt. Sie sollen also für die Gesinnung Dritter haften. Wer die entsprechende Erklärung nicht unterschreibe, erhalte keine Förderung. Dieses Vorgehen ist, so finde ich, demokratiepolitisch fatal. Es ist kontraproduktiv. Es widerspricht dem Geist unserer Verfassung.
Meine Damen und Herren von der Koalition, es geht hier nicht um das routinierte, gewissermaßen banale Verwaltungshandeln einer Behörde, um das Kleingedruckte in Bescheiden, um Detailbestimmungen in Auflagen. Diese Extremismusklausel berührt elementare Fragen der Demokratie. Was darf der Staat von seinen Bürgern eigentlich verlangen? Darf er ihnen ein Bekenntnis – und sei es ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung – abringen? Oder muss er dies nicht vielmehr aus Respekt vor dem Bürger voraussetzen? Darf der Staat seine Bürger einer Gesinnungsprüfung unterziehen und sie dazu verpflichten, die Gesinnung ihrer Mitbürger zu überprüfen?
Ein Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages findet auf diese Fragen folgende Antworten – ich referiere den Befund –: Erstens. Der Staat missachte die verfassungsrechtlich garantierte Meinungsfreiheit, wenn er Bürger bereits bei der bloßen Vergabe von Fördermitteln zu einem Bekenntnis zwinge. Zweitens. Der Staat habe kein Recht, seine Bürger zur Gesinnungsschnüffelei gegenüber Mitbürgern zu verpflichten. Auch im Zuwendungsrecht sei der Staat an die objektive Werteordnung des Grundgesetzes gebunden. So der Befund.
Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nicht darum, über die Gefahren des Linksextremismus naiv und blauäugig hinwegzusehen. Die Kritik richtet sich auch nicht gegen die Absicht, eine ungewollte Unterstützung extremistischer Strukturen zu vermeiden. Das ist legitim und geboten. Doch ein so deutliches und prinzipielles Misstrauensvotum eines staatlichen Ministeriums gegenüber potenziell allen Bürgern können und wollen sich selbstbewusste Demokraten nicht gefallen lassen.
Welche bizarren Blüten, Kollege Geis, das Vorgehen des Ministeriums treibt, zeigt ein Fall aus Sachsen. Hier wurde selbst der Stadt Riesa im Gegenzug für Fördermittel ein Demokratiebekenntnis abverlangt. Der Bürgermeister der Stadt unterschrieb mit großen Bauchschmerzen, erklärte aber zugleich, er könne und wolle mit seiner Unterschrift keinesfalls für die beiden NPD-Abgeordneten in seinem Stadtrat bürgen. So können Sie es in der Sächsischen Zeitung vom 12. Januar dieses Jahres nachlesen. Man fragt sich bei dieser Sachlage, warum die liberale Justizministerin und ihr Staatssekretär, warum Bürgerrechtsliberale, wenn es sie denn noch gibt, dies alles stillschweigend ertragen, ja, mittragen.
Die Reaktionen sind – nicht nur bei den Betroffenen – sehr eindeutig. Die Kritik kommt von allen Seiten. Nur ein Beispiel: Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, erklärte gestern in der Bundespressekonferenz – ich zitiere –: "Die Extremismusklausel der Bundesregierung ist ein Symbol für den Überprüfungswahn, die Bürokratisierung und schließlich das Misstrauen dieser Regierung und damit von Teilen der konservativliberalen Politik in die eigenen Bürger. Frau Schröder verlangt ein Bekenntnis zum Grundgesetz und verliert dabei das Wesentliche aus dem Blick. Die Tatsache, dass so viele Menschen in unserem Lande aufstehen und sich gegen Nazis und Rechtsextremisten engagieren, ist das deutlichste und emotionalste Bekenntnis zum Grundgesetz und zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, was es überhaupt nur geben kann." Kramer sagte weiter: "Wer das nicht sieht, wem das nicht Bekenntnis genug ist, der hat wirklich nicht verstanden, was Bürgergesellschaft und Demokratie ausmacht." Herr Kramer hat vollständig recht. Das ist nur ein Beispiel von vielen für die Kritik an dem, was Sie hier vorhaben. Ich sage das im Hinblick auf viele, die sich mit ihrem oft ehrenamtlichen Engagement für die Demokratie als mögliche Verfassungsfeinde
verdächtigt sehen.
Demokratie muss sich verteidigen. Wer würde diese Lehre aus dem Ende der Weimarer Republik vergessen? Zunächst einmal beruht Demokratie aber auf Vertrauen. Wenn der Staat erwartet, dass Bürger für eine demokratische Kultur, also für die Grundlagen des demokratischen Staates, eintreten, so tut er gut daran, diesen Bürgern nicht a priori mit Misstrauen zu begegnen. Wer den Initiativen gegen Rechtsextremismus die Beweislast für die demokratische Gesinnung ihrer Mitglieder übertragen will, der sät eine Kultur des Misstrauens und der erzeugt ein Klima, in dem Engagement und Zivilcourage nicht gestärkt, sondern gebremst werden. Wer Demokratie stärken will, der sollte gerade junge Menschen einladen, sich in ihr und für sie zu engagieren, und sie nicht unter den Generalverdacht der Verfassungs-feindlichkeit stellen. Es geht um eine Kultur der Anerkennung von Engagement, um Vertrauen statt Misstrauen und um Ermunterung statt Kontrolle. Verzichten Sie auf diese Erklärung, bevor das Verfassungsgericht Sie dazu zwingen muss.