Unterschrift Wolfgang Thierse

Rede Kommunismus-Debatte

 
21. Januar 2011

Aktuelle Stunde im Bundestag: Thierse zu Kommunismus-Debatte

© Deutscher Bundestag / Siegfried Büker

 

Auf Verlangen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion wurde im Bundestag für den 21. Januar eine Aktuelle Stunde angesetzt. Thema: Die Aussagen der Linken-Vorsitzenden Gesine Lötzsch über die "Wege zum Kommunismus". Wolfgang Thierse sprach für die SPD-Bundestagsfraktion.

 
Die Rede von Wolfgang Thierse im Wortlaut

Ist das, worüber wir hier – lästigerweise – zu reden haben, bloß unglücklich formuliert oder überinterpretiert oder böswillig missverstanden (wie Lafontaine, Gysi und Lötzsch behaupten)?

Ich lese den Text und stelle fest: Zwei Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution in der DDR macht sich die Vorsitzende der Linkspartei erneut auf die Suche nach dem „richtigen Weg“ – den Weg in den Kommunismus. Die Wege dahin, so schreibt sie, könne man nur finden, wenn man sie ausprobiere – ob in der Opposition oder in der Regierung. Man mag es kaum glauben: Die Vorsitzende einer im Bundestag vertretenen Partei propagiert im Jahre 2011 den Kommunismus als ein mögliches gesellschaftspolitisches Ziel – als sei der Kommunismus eine normale Denkoption, ein unschuldiges gedankliches Konstrukt, ein noch immer erstrebenswertes, unbeflecktes Ziel.

Dass der Kommunismus eine ganz reale, nämlich eine brutale und blutige Geschichte hat, spielt im politischen Denken der Gesine Lötzsch keine Rolle. Es gibt in ihrem mehrseitigen Text vom 3. Januar 2011 zwar eine Passage über die „offene Barbarei“ im 20. Jahrhundert, aber diese bezieht sich ausdrücklich auf „Perioden der Entfesselung des Kapitalismus“. An den entfesselten Kommunismus, den entfesselten Stalinismus verschwendet die Autorin kein einziges Wort, keinen einzigen Gedanken – obwohl sie doch selbst SED-Mitglied war und heute deren Nachfolgepartei vorsitzt.

Diese Geschichtsvergessenheit, diese Ignoranz gegenüber den Opfern des kommunistischen Großversuchs, dieses großzügige Hinwegsehen über die Verantwortung der eigenen politischen Bewegung – das ist beschämend, das ist verletzend, das ist skandalös.

Und es ist verräterisch. Denn unüberhörbar ist die Botschaft von Frau Lötzsch, gerichtet an Anhänger, Sympathisanten und Funktionäre der Linkspartei, die die Verbrechen des Stalinismus verdrängen und die Opfer der kommunistischen Diktatur verhöhnen. Sie macht damit die ständig wiederholte Behauptung unglaubwürdig, die Linkspartei hätte sich radikal selbstkritisch mit ihrer eigenen Geschichte befasst und Konsequenzen gezogen.

Ihr Verweis darauf, dass der Kommunismus etwas ganz Fernes, noch niemals Verwirklichtes sei, ist intellektuell unredlich. Frau Lötzsch sollte vielleicht doch einmal ihre Klassiker lesen. In der „Deutschen Ideologie“ von Marx / Engels heißt es:

„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ (Quelle: Die deutsche Ideologie. Marx/Engels, MEW 3, S. 35, 1846/1932)

Kommunismus ist die wirkliche Bewegung, Frau Lötzsch, nicht das ferne Ziel. Und das wichtigste politische Instrument dieser Bewegung hieß Diktatur (Diktatur des Proletariats und tatsächlich Diktatur der kommunistischen Partei). Die Wirklichkeit des Kommunismus begann mit Lenin und seinen Bolschewiki. Und seine Bewegung reagierte nicht nur auf Gewalt, sondern erzeugte sie auch. Für Stalin wurde Gewalt allgegenwärtiges Machtinstrument – mit Millionen von Opfern im Namen des Kommunismus.

Und die herrschenden Parteien im sowjetischen Machtbereich verstanden sich – durch Lenin und Stalin geprägt – zu Recht als kommunistische Parteien und handelten auch so, auch die SED.

Sie kennen hoffentlich die unbequeme Frage von Ernst Bloch (schon aus den dreißiger Jahren): Hat der Stalinismus den Kommunismus bis zur Unkenntlichkeit verzerrt oder vielmehr zur Kenntlichkeit gebracht? Diese Frage ist durch die blutige Bilanz der kommunistischen Bewegung endgültig beantwortet.

Wer am Traum von einer gerechten Gesellschaft, einer gerechteren Welt festhalten will – und dafür gibt es wahrlich gewichtige Motive – der kann das nur (jedenfalls nach der furchtbaren Geschichte der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert), wenn er radikale Kommunismuskritik übt, wenn er / sie nicht kalkuliert-naiv von Wegen zum Kommunismus schwadroniert. Sonst diskreditiert er sich moralisch und politisch.

Debatten über neue Wege zum Kommunismus sind und bleiben überflüssig! Sie sollten sich endlich entscheiden, Frau Lötzsch, welchen Weg Sie und Ihre Partei künftig gehen wollen: in die Demokratie oder in den Kommunismus. Es gibt keinen Mittelweg zwischen Demokratie und Diktatur, keine goldenen Brücken zwischen beiden, kein „sowohl als auch“. Genau das ist die historische Lehre aus dem 20. Jahrhundert – und die Linkspartei sollte sich dieser Einsicht nicht länger verweigern!