Unterschrift Wolfgang Thierse

Rede im Bundestag zum Stasiunterlagengesetz

 
30. September 2011

Rede zur Novellierung des Stasiunterlagengesetzes

Wortprotokoll der Rede

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich ein wenig grundsätzlich und zugleich persönlich beginnen. Die Aufarbeitung der unseligen Erbschaft des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und des SED-Staates insgesamt ist wesentlich für unser demokratisches Selbstverständnis, so wie das auch für die Nazi-Erbschaft gilt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Diese Aufarbeitung ist seit 1990 gemeinsames Anliegen einer breiten Mehrheit des Deutschen Bundestags.

(Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Und soll es auch bleiben! - Gegenruf der Abg. Christine Lambrecht (SPD): Dann darf man den Konsens nicht auflösen!)

Sie ist mir auch persönlich sehr wichtig. Ich war seit 1990 an allen wichtigen Entscheidungen zu diesem Thema beteiligt. Ich habe mich 1990 in der Volkskammer für die Öffnung der Akten des Stasi-Ministeriums ausgesprochen. Ich habe mich 1991 für die Errichtung der Stasi-Unterlagen-Behörde eingesetzt, und dafür, dass diese Errungenschaft der friedlichen Revolution auch heute noch existiert. Ich habe an allen Novellierungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes mitgewirkt.

Das hat durchaus auch biografische Gründe. Ich möchte zumindest einen Aspekt erwähnen. Ich bin aufgewachsen als Sohn eines Rechtsanwalts in der DDR. Das heißt, ich bin aufgewachsen mit den Niederlagen meines Vaters in politischen Verfahren. Ich will nur ein Beispiel erzählen, das zu meinen frühesten politischen Erinnerungen gehört.

Als im März 1953 Stalin gestorben war, rief ein Mann im Suff auf dem Dorfplatz: Hurra, der größte Verbrecher aller Zeiten ist gestorben. ‑ Mein Vater hat diesen Mann verteidigt. Er hat acht Jahre Zuchthaus bekommen. Ich werde nie das Gesicht meines Vaters vergessen, als er beim Abendessen mit Tränen in den Augen davon erzählte und sagte: Ich habe nichts für ihn tun können.

Wenn man so geprägt ist, wird man nie Kommunist. Mein Vater hat Menschen verteidigt ‑ wir haben in der Nähe zur Grenze im Thüringischen gewohnt ‑, die angeklagt und verurteilt wurden wegen versuchter Republikflucht, wegen der Inanspruchnahme eines elementaren Menschenrechts.

Ich erinnere daran, weil daher eine fast unstillbare Sehnsucht rührt nach unbedingter Rechtsstaatlichkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich habe mich dafür eingesetzt, dass die Stasi-Unterlagen-Behörde das werden konnte, was sie heute ist, nämlich die zentrale Einrichtung zur Aufklärung von DDR-Unrecht. Die nicht rechtsstaatlich zustande gekommenen Stasi-Akten den Opfern, der Wissenschaft und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, dafür haben wir eine rechtsstaatliche Ausnahmeregelung geschaffen. Mit ihren drei Schwerpunkten, nämlich Aufarbeitung, Forschung und Bildung über die Funktionsweise und Struktur der SED-Herrschaft, erfüllt diese Behörde eine unersetzliche Aufgabe. International ist sie zum Vorbild für einen geordneten und zukunftsweisenden Umgang mit einer diktatorischen Vergangenheit geworden.

Dass die SPD für Aufarbeitung steht, daran darf und kann kein Zweifel bestehen. Wir sind gegen einen Schlussstrich. Lieber Kollege Kurth, Sie sollten nicht das Gegenteil öffentlich behaupten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch die erneute Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes unterstützen wir. Die Überprüfungsmöglichkeiten bis 2019 zu verlängern, halten wir für genauso richtig, wie wir der Mehrzahl der Veränderungen im Gesetzentwurf ausdrücklich zustimmen.

Konsens herrscht darüber, dass auch ehrenamtliche Bürgermeister, Kommunalvertreter und Bewerber für ein Wahlamt auf eine Stasi-Mitarbeit hin überprüft werden können. Sinnvoll ist eine Vereinfachung des Zugangs zu den Unterlagen für Wissenschaftler und Journalisten. Richtig sind auch Regelungen, die klar umrissenen Personengruppen die Einsichtnahme in Akten erleichtern, beispielsweise Angehörigen Vermisster oder Verstorbener.

Über all diese Punkte sind wir uns mit den Koalitionsfraktionen rasch und problemlos einig geworden. Dennoch wird die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes erstmals ohne breite parlamentarische Mehrheit verabschiedet werden. Ich bedaure dies sehr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zurufe von der CDU/CSU: Wir auch!)

Mit zwei Vorschlägen nämlich sind die Koalitionsfraktionen so weit über das Ziel hinausgeschossen, dass weder SPD noch Bündnis 90/Die Grünen zustimmen können. Unser Änderungsantrag spiegelt dies wider.

Dissens herrscht zum Ersten über die Ausweitung des überprüfbaren Personenkreises im öffentlichen Dienst, wie Schwarz-Gelb das will. Eine Überprüfbarkeit ohne die Voraussetzung eines auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützten Verdachts lehnen wir ab.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mehr als 20 Jahre nach dem Fall der Mauer ist diese Regelung schlicht unverhältnismäßig. Die vergangenen zwei Jahrzehnte müssen bei der Beurteilung einer Person und ihrer Tätigkeit genauso zählen wie das möglicherweise moralisch falsche Handeln in der DDR zuvor.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Grundüberzeugung lautet ‑ Kollegin Philipp hat es ebenfalls zitiert ‑: Vertrauen ist eine wesentliche Grundlage rechtstaatlicher Demokratie ‑ Vertrauen in die Veränderbarkeit von Menschen. Dieses Vertrauen kann enttäuscht werden. Wenn dies geschieht und Anhaltspunkte den Verdacht auf eine Tätigkeit für das MfS nahelegen, dann ‑ und nur dann ‑ muss die Überprüfung für alle Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst möglich sein.

Diese Überprüfung dient allen. Sie liegt im Interesse der arbeitgebenden Behörde, der Öffentlichkeit und nicht zuletzt der verdächtigten Person selbst. Deshalb haben wir vorgeschlagen, immer dann die Überprüfung möglich zu machen, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt, unabhängig von Funktion und Entgeltgruppe des Betroffenen. Das war unser Vorschlag, auf den Sie leider nicht eingegangen sind.

Dissens herrscht zum Zweiten über die Einführung eines de facto rückwirkenden Einzelfallgesetzes, mit dessen Hilfe sich die Koalitionsfraktionen jener 47 ehemaligen Stasi-Mitarbeiter aus der Behörde entledigen wollen, die aber mittlerweile seit über zwei Jahrzehnten in dieser Behörde arbeiten.

(Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Schlimm genug!)

Die mögliche Begegnung mit früheren Tätern ist für Opfer gewiss schwer erträglich. Wenn ehemalige Stasi-Mitarbeiter in der Behörde Opfer von der Einsichtnahme ihrer Akten abhalten, dann ist das ohne Zweifel ein gravierendes Problem. Die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter sind aber unter Schäuble und Gauck eingestellt worden, weil man sie damals zu brauchen meinte.

(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Erst mal befristet!)

Heute arbeiten diese Mitarbeiter seit über 20 Jahren in der Behörde und haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Sie haben sich Vertrauensschutz in das Fortbestehen ihrer Arbeitsverhältnisse erworben. Die Fürsorgepflicht der Behörde als Arbeitgeber gilt auch gegenüber diesen Mitarbeitern.

(Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Genau das beurteilen wir anders!)

Eine Lösung des Dilemmas kann es nur in rechtsstaatlich ‑ also arbeits- und dienstrechtlich ‑ einwandfreier Weise geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie muss gemeinsam mit den 47 Mitarbeitern gefunden werden. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen dagegen schlägt einen verfassungsrechtlich wie rechtspolitisch bedenklichen Weg ein. Wir lehnen ihn deshalb in diesem Punkte entschieden ab.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, es ist übrigens eine Illusion, wenn man meint, möglichen arbeitsrechtlichen Konflikten durch eine solche gesetzliche Regelung aus dem Weg gehen zu können.

(Beatrix Philipp (CDU/CSU): Einvernehmlich! - Gegenruf des Abg. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann brauchen Sie es nicht in ein Gesetz zu schreiben!)

Wir lehnen diesen Gesetzentwurf auch in der Gewissheit ab, dass eine andere Lösung des Problems möglich ist. Dass die Bundesregierung in nachgeordneten Einrichtungen adäquate Arbeitsplätze für diese Mitarbeiter anbietet, scheint mehr eine Frage des Wollens als des Könnens zu sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies entnehme ich der Antwort von Staatsminister Neumann auf meine Anfrage von letzter Woche. Darin hat er mitgeteilt, dass er jetzt bereit ist, 19 Stellen in nachgeordneten Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Ganz ohne dieses Gesetz ist das möglich.

(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Dann stellen Sie doch einen ein! - Gegenruf der Abg. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Jetzt sind Sie sprachlos!)

Die Aufarbeitung des DDR-Unrechts ist ein Kapitel unserer Geschichte, das nicht abgeschlossen ist und auf absehbare Zeit nicht abgeschlossen werden kann. Hier bedarf es der nötigen Instrumente, gewiss, aber auch des rechten Maßes. Angesichts der gegenwärtigen Diskussionen und Einlassungen auch mancher Kollegen kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Radikalität der Beurteilung der DDR-Geschichte mit der zeitlichen Distanz zu- statt abnimmt.

Nach meiner Überzeugung ist das notwendige Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen nicht dadurch zu gewinnen, dass ein latentes Misstrauen gegenüber Mitbürgern ostdeutscher Herkunft in Gesetzen festgeschrieben wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hier entsteht über 20 Jahre nach dem Fall der Mauer eine Schieflage; denn faktisch ist - auch wenn Sie anderes behaupten - nicht der 1958 in Mannheim Geborene gemeint, sondern der 1958 in Leipzig Geborene.

(Beifall bei der SPD - Iris Gleicke (SPD): So ist das! Ganz genau! Das ist nämlich der Punkt! - Christoph Poland (CDU/CSU): Nein! Das ist völliger Unsinn! Es geht um den Mannheimer! Eine öffentliche Falschmeldung!)

Um eine Formulierung aus dem Historikerstreit aufzunehmen: Auch die DDR-Vergangenheit ist eine „Vergangenheit, die nicht vergeht“. Weitere Anstrengungen bleiben nötig, um diese Geschichte präzise und gründlich zu erforschen und sichtbar zu machen. Akten müssen zugänglich bleiben. Die Aufklärungsarbeit und die politisch-historische Bildung bleiben wesentliche Aufgaben der Zukunft. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dies alles sollte einer wichtigen Unterscheidung folgen, ohne die die historische und politisch-moralische Aufarbeitung schiefläuft: der Unterscheidung einerseits zwischen dem Urteil über das politische, wirtschaftliche, ideologische System, das falsch war und zu Recht gescheitert und überwunden ist - dieses Urteil muss hart und entschieden sein -,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und andererseits dem Urteil über die Menschen, die in diesem System gelebt haben,

(Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Über die Täter, Herr Kollege, nicht über die Opfer!)

die Biografien, die in diesem System gelebt worden sind, die nicht alle falsch waren und nicht alle gescheitert sind. Dieses Urteil sollte sehr differenziert, behutsam und menschenfreundlich sein. Es geht um das rechte Maß.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb können wir dem Gesetzentwurf der Koalition nicht zustimmen. Ich lade Sie ein, dem ausgewogenen und maßvollen Änderungsantrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu folgen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)