Unterschrift Wolfgang Thierse

Predigt im Universitätsgottesdienst in Kiel

 
1. Juli 2012

Predigt im Universitätsgottesdienst in Kiel

© Genet aus der deutschsprachigen Wikipedia

 
 

Wolfgang Thierse                                                                                                                  

Predigt im Universitätsgottesdienst in Kiel am 1. Juli 2012

 

Predigttext 1 Petrus 3, 8 – 17

Endlich aber: seid alle eines Sinnes, voll Mitgefühl und brüderlicher Liebe, seid barmherzig und demütig! Vergeltet nicht Böses mit Bösem noch Kränkung mit Kränkung! Statt dessen segnet: denn ihr seid dazu berufen, Segen zu erlangen. Es heißt nämlich:

Wer das Leben liebt / und gute Tage zu sehen wünscht,

der bewahre seine Zunge vor Bösem / und seine Lippen vor falscher Rede.

Er meide das Böse und tue das Gute; / er suche Frieden und jage ihm nach.

Denn die Augen des Herrn blicken auf die Gerechten, / und seine Ohren hören ihr Flehen; / aber das Antlitz des Herrn richtet sich gegen die Bösen.

Und wer wird euch Böses zufügen, wenn ihr euch voll Eifer um das Gute bemüht? Aber auch wenn ihr um der Gerechtigkeit willen leiden müsst, seit ihr seligzupreisen. Fürchtet euch nicht vor ihnen, und lasst euch nicht erschrecken, sondern haltet in eurem Herzen Christus, den Herrn, heilig! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt; aber antwortet bescheiden und ehrfürchtig, denn ihr habt ein reines Gewissen. Dann werden die, die euch beschimpfen, weil ihr in (der Gemeinschaft mit) Christus ein rechtschaffenes Leben führt, sich wegen ihrer Verleumdungen schämen müssen. Es ist besser, für gute Taten zu leiden, wenn es Gottes Wille ist, als für böse.

 

Liebe Gemeinde!

 

Als dieser Text zur heutigen Predigt mir aufgetragen war und ich ihn las, fiel mir schlagartig ein, wann ich mich zum ersten Mal intensiv mit dieser Bibelstelle befasst habe.

Es war im Spätsommer des Jahres 1965, vor Beginn des neuen Studienjahres: Der Studentenpfarrer hatte die neuen Sprecher der Ostberliner Katholischen Studentengemeinde (von denen ich einer war) zur Vorbereitung des Semesters zusammengerufen und mit uns eine Bibelarbeit, ein intensives Bibelgespräch genau über unseren heutigen Predigttext gemacht. „…Gebt Rechenschaft von der Hoffnung, die Euch erfüllt …“.

 Und das in der eingesperrten DDR, wenige Jahre nach dem Mauerbau – wo gerade wir jungen Leute von einem Grundgefühl des Eingesperrtseins, des Bedrängt- und Ausgegrenzt-Werdens, der Horizontbegrenzung und Zukunftsverengung erfüllt waren.

 In solcher Stimmung, bezogen auf diese Situation lasen wir die Aufforderungen des Petrus-Briefes an die christliche Gemeinde:

 

-    Seid eines Sinnes, voll brüderlicher Liebe und barmherzig …

-    Vergeltet nicht Böses mit Bösem, sondern segnet …

-    Tut das Gute und sucht den Frieden, ja jagt ihm nach …

-    Fürchtet euch nicht, lasst euch nicht einschüchtern …

-    Steht Rede und Antwort über die Hoffnung, die euch trägt …

-    Aber bleibt dabei bescheiden …

Steile Forderungen! Ziemlich viel von uns verlangt! Von jungen Leuten. Und das in gefühlter Bedrängnis, ja Aussichtslosigkeit derer, die irgendwie übriggeblieben und deshalb eingesperrt waren.

Ich habe nicht vergessen, wie wir damals diesen Text gelesen, zu interpretieren versucht und verstanden haben. Damals und heute sind mir vier Punkte besonders wichtig in diesem Text.

1. 

Die Aufforderung ergeht an uns, an die Gemeinde, an die Gemeinschaft der Christen, schon das zu leben und zu praktizieren, was wir von der Gesellschaft, von der Zukunft erwarten: Seid gleichgesinnt, brüderlich, barmherzig, demütig. Ihr sollt zeigen, dass es geht und wie es geht, bevor Ihr Andere dazu auffordert, das von ihnen verlangt: Eintracht, Gerechtigkeit, Versöhnung mitten im Streit, Frieden …

2.

Die Aufforderungen des Petrus-Briefes sind keine Einladung zum Rückzug, zur Besinnung auf die kleine Herde, keine Einladung zu „Entweltlichung“. Dies waren (und sind) ja die Verführungen, denen eine Minderheit ausgesetzt ist: In der Diaspora-Situation (von Volkskirchen konnte ja schon damals keine Rede mehr sein) schön beieinanderbleiben und zu überwintern versuchen. Aber bei Petrus steht: Tut Gutes, sucht den Frieden und jagt ihm nach. Seid also aktiv, seid also nicht unpolitisch, mischt Euch ein, wo Ihr es könnt.

3.

Vor allem aber: Bleibt nicht unter Euch, sondern gebt Zeugnis, verantwortet Eure Hoffnung vor den Anderen, wenn sie danach fragen. Habt Hoffnung und überwindet Resignation und Zynismus und Angst.

4.

Seid also durchaus selbstbewusst, aber werdet nicht arrogant oder besserwisserisch (weil ihr eine andere, bessere Wahrheit besäßet). Wir Christen, unsere Kirchen, haben keinerlei Anlass zu Triumphalismus.

Wenn Ihr so einträchtig seid und Euch so verhaltet, dann – das steht in den Versen 16 und 17 – „werden die, die Euch beschimpfen, weil Ihr in der Gemeinschaft mit Christus ein rechtschaffenes Leben führt, sich wegen ihrer Verleumdungen schämen müssen. Es ist besser, für gute Taten zu leiden, wenn es Gottes Wille ist, als für böse.“ Dieser letzte Satz, diese Begründung für anständiges Verhalten – ein Verhalten, das manchmal auch schmerzliche Konsequenzen haben kann – die hat mir damals gut gefallen und sie gefällt mir auch heute noch: Man kann und soll sich Leiden nicht aussuchen, aber wenn schon Leiden, dann doch lieber für etwas Gutes, für etwas, wovon man überzeugt ist!

 

Liebe Zuhörende!

Sind die Zeiten heute, 45 Jahre später, so viel besser? (Für mich sind sie gewiss ganz anders!) Sind die Aufforderungen des Petrus-Briefes heute leichter zu erfüllen für uns Christen?

Es gibt keinen rechten Anlass, das anzunehmen oder zu behaupten. Eher das Gegenteil.

Wir stecken in einer Krisenzeit – alle Welt redet davon, mal apokalyptisch bedrohlich, mal besänftigend, mal verharmlosend.

Seit dem Jahr der Wunder 1989/90, seit dem Ende des Kommunismus und des Ost-West-Systemkonflikts, seit dem Sieg der Freiheit, den viele als endgültigen Sieg des Westens empfunden haben, seitdem ist die Welt (und auch unser Land) dramatischen, sich beschleunigenden technologischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Veränderungen und Entgrenzungen unterworfen, die wir in dem (blasser werdenden) Wort „Globalisierung“ zusammenfassen. Ein Prozess, der kollektive wie individuelle Sieger und Verlierer erzeugt: Die Einen surfen auf der Welle der Modernisierungen, die Anderen sind bedrängt von Zukunftsunsicherheiten, von Überforderungs- und Abstiegsängsten.

Und die Politik? Unsere Demokratie wird bedrängt durch die Dominanz der Märkte, die den Primat demokratischer Politik infrage stellt. Die Diskrepanz zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits und andererseits der Langsamkeit und Begrenztheit demokratischer politischer Prozesse und Entscheidungen – sie nimmt auf beunruhigende Weise zu.

Demokratische Politik erweckt immer mehr den Eindruck, nur noch atemlos hinterherhetzen zu können, bestenfalls Wundpflaster und schmerzlindernde Mittel verabreichen zu können. Das Sagen – so ist der Eindruck – haben die ominösen Märkte, haben Rating-Agenturen, Finanzmanager, Banker – alle von niemandem gewählt und legitimiert.

Vertrauen und das Gefühl von Sicherheit bei den Bürgern stärken diese Wahrnehmungen gewiss nicht.

Was geschehen kann, wenn Enttäuschung und Ungeduld zu groß werden, das wissen wir aus der Geschichte: Zeiten der Zukunftsverunsicherungen und Ängste, der bedrohlichen Problemfülle und sozialen Nöte, der Unzufriedenheit und des Vertrauensverlustes sind Zeiten besonderer politischer Verführbarkeit durch Populisten, politischer Heilslehrer, Fundamentalisten, durch politische Religionen oder religiös überhöhte Politik.

Was passieren kann, wenn sich Unzufriedenheit und Angst und Verzweiflung (bei denen „unten“ in der Gesellschaft) mit Demokratieverachtung und Maßlosigkeit und Verantwortungslosigkeit (bei denen „oben“ in der Gesellschaft) paaren, wenn wirtschaftliche Verlierer und gesellschaftliche Eliten sich zu einer Abkehr vom demokratischen System verbünden, das hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts gezeigt, gerade auch in Deutschland.

Nun muss und wird Geschichte sich nicht unbedingt wiederholen. Aber die gegenwärtige Krise ist wohl auch ein moralischer Testfall für unsere Gesellschaft, ist eine Mentalitätskrise (wie ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter gerade geschrieben hat). Sie ist eine radikale Infragestellung unserer vertrauten Einstellungen, eine Herausforderung für unsere Verantwortungsbereitschaft.

Wann, wenn nicht jetzt in der anhaltenden Krise, ist herausgefordert, was Grundlage von Demokratie – als politischer Lebensform der Freiheit – ist: Gerechtigkeit und Solidarität!

In den Zeiten von Wachstum und Wohlstandsmehrung – da ist alles ganz leicht: Zuwächse, Überfluss ist zu verteilen. Die Verteilungskonflikte bleiben ganz moderat. Aber wenn die Zeiten nicht mehr so sind oder nicht mehr so sein werden?

Dann wird es ernst mit Gerechtigkeit und Solidarität als Grundlage und Ziel von demokratischer Politik, also unserer gemeinschaftlichen öffentlichen Anstrengungen.

Was wird dann aus unserem Sozialstaat? Dieser nämlich ist die durch demokratische Politik verbürgte Solidarität zwischen den Starken und Schwachen, den Arbeithabenden und Arbeitslosen, den Gesunden und Kranken, den Jungen und Alten.

Von dem verstorbenen brasilianischen Erzbischof  Dom Helder Camara stammt der treffende Satz: „Wer freigebig an die Armen Brot austeilt, gilt als Heiliger. Wer sagt, dass der Arme ein Recht auf Brot hat, gilt als gefährlich.“

Genau darum geht es. Die eigentliche Leistung des Sozialstaats besteht darin, den Schwachen und Bedürftigen nicht nur als Objekt gewiss notweniger und löblicher Caritas und individueller Hilfsbereitschaft zu behandeln, sondern als Subjekt von Rechtsansprüchen – die ihm zustehen, weil er Bürger ist, weil der Schwache die gleiche Menschenwürde hat wie der Starke.

Diese Leistung unseres Sozialstaates gilt es zu verteidigen, zu behaupten in den durch die Krise härter werdenden Verteilungskämpfen – gegen Entsolidarisierungstendenzen, gegen Versuche, immer mehr dem Markt, also der Konkurrenz zu überlassen, also Lebensrisiken zu privatisieren. Der Sozialstaat unterscheidet Europa mehr als alles andere von den anderen Kontinenten. Europa ist charakterisiert durch die Dreieinigkeit von Organisation technologisch-wissenschaftlichen Fortschritts und wirtschaftlichen Erfolgs, von Rechtsstaatlichkeit und Garantien individueller Freiheit, von sozialen Sicherungssystemen, also Sozialstaatlichkeit. Um die Zukunft dieser Dreieinigkeit geht es in der gegenwärtigen Krise auch und vor allem.

Habe ich mich jetzt allzu weit von unserem Predigttext entfernt? Ich hoffe nicht. Dem Bösen widerstehen und Gutes tun, das heißt für mich (als Politiker) in dieser Krisenzeit – über die kostbare und notwendige individuelle Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit hinaus – Gerechtigkeits- und Solidaritätspolitik einfordern und unterstützen und praktizieren – gerade weil diese Politik angefochtener, schwieriger, schmerzlicher wird.

Und was wird aus Europa? Aus diesem seit 60 Jahren so erfolgreichen Friedensprojekt? Dieses Europa – und nicht nur der Euro – ist in Gefahr. Ist in Gefahr durch wiederkehrende oder sich verstärkende kollektive Verlustängste, durch nationale Egoismen, durch Wohlstandschauvinismus: Die „faulen Griechen“, die „unseriösen Italiener“, die „leichtsinnigen Spanier“ … Wo kämen wir hin, wenn wir Deutschen deren Schulden mit abtragen müssten! Bloß das nicht! Das wäre ja „Schuldensozialismus“ – beinahe das letzte Tabu in dieser Gesellschaft (jedenfalls in ihrer Boulevard-Ausgabe)!

Aber sollte Europa, sollte die EU nicht auch – eben um des Friedens willen – eine Solidargemeinschaft sein, eine Lasten-Ausgleichs-Gemeinschaft in schwierigen Zeiten, so wie sie in guten Zeiten eine Zugewinngemeinschaft war und ist, wovon vor allem wir Deutschen profitiert haben!

Am Freitagabend hat der Deutsche Bundestag mit sehr großer Mehrheit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und dem Fiskalpakt zugestimmt. Ich selbst habe es getan in dem Bewusstsein, dass dies Entscheidungen mit großen Risiken sind, dass aber Nichthandeln das viel größere Risiko ist.

Beide Entscheidungen sind erneute Versuche, die Finanzmarktkrise einzudämmen, ihre Folgen zu lindern. Keiner kann vorhersagen, ob diese Maßnahmen wirklich helfen, wirklich erfolgreich sind. Sie sind trotzdem notwendig, aber sie reichen sehr, sehr wahrscheinlich nicht aus.

Denn solange demokratische Politik den Finanzmärkten hinterher hechelt, solange die Macht dieser Märkte nicht gebrochen wird durch Regeln und Sanktionen, ja solange nicht einmal ernsthaft hinterfragt wird, wer und was diese „Märkte“ eigentlich sind – es sind doch Menschen und Mechanismen –, solange alle: Politik und Medien und Wirtschaft angstvoll auf die Märkte und ihre Reaktion starren, sie zum Maßstab für ihr Handeln machen, solange Aktienwerte, Spekulationsgewinne, Renditemarchen die Kriterien für Erfolg schlechthin sind – solange werden wir von Krise zu Krise eilen, solange werden Demokratie und sozialer Frieden immer neu gefährdet!

Jagt dem Frieden nach, steht in unserem Text. Nicht: Jagt den Märkten nach, dem schnellsten, dem größten Gewinn!

Die Finanzmarktkrise ist auch eine moralische Krise. Sie zeigt, wie die Maßstäbe für gutes Leben, für eine gerechte und solidarische Gesellschaft durcheinander geraten sind, wie sehr sie durch einen entfesselten Finanzkapitalismus zermahlen werden.

„Suche den Frieden und jage ihm nach“ – das ist eine politische Aufgabe und heißt ins Politische übersetzt heute, Europa als Friedensprojekt verteidigen und in die Zukunft führen dadurch, dass die Maßstäbe wieder hergestellt, der Primat demokratischer Politik gegenüber den Finanzmärkten wiedergewonnen, Verlustängste, nationale Egoismen, Wohlstandchauvinismus überwunden werden.

Es geht um mehr als um unser kostbares Geld!

 

Liebe Zuhörende!

Sie sehen, ich habe die Worte des Petrus-Briefes anders gelesen als vor 45 Jahren, sie haben mich zu anderen Überlegungen angestiftet. Aber wir leben ja auch in einer anderen Zeit, wir (und ich zumal) haben uns in anderen Konflikten zu entscheiden. Wir haben Entscheidungen zu treffen, die Schmerzen bereiten können – umso wichtiger ist, sie an dem richtigen Maßstab auszurichten, an den der Petrus-Brief uns erinnert: „Tue Gutes und suche den Frieden“.

Und: Es ist doch wirklich viel besser, für gute Taten zu leiden (wenn es denn sein muss), als für böse!