Laudatio auf Günter de Bruyn anlässlich der Verleihung des Johann-Heinrich-Merck-Preises für literarische Kritik und Essay der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt am
29. Oktober 2011 im Staatstheater Darmstadt
Anrede,
die Nachricht, Günter de Bruyn werde mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay geehrt, löste bei mir ein gewisses Erstaunen aus: Nicht, weil Günter de Bruyn diesen Preis erhält, sondern weil er ihn so spät erhält. Damit hatte ich angesichts des ebenso umfangreichen wie literarisch und historisch anspruchsvollen essayistischen Werkes Günter de Bruyns nicht gerechnet.
Günter de Bruyns Lebenslauf ist geradezu exemplarisch für deutsche Schriftsteller dieser Generation. In seiner Biographie spiegelt sich die Zeit- und Kulturgeschichte eines ganzen Jahrhunderts.
Lassen Sie mich einige Stationen in Erinnerung rufen:
Geboren im Jahre 1926 in Berlin, wuchs der Katholik Günter de Bruyn unter Protestanten auf. Der Katholizismus seiner Familie, so schrieb er später, schützte ihn in jungen Jahren vor den Zumutungen der nationalsozialistischen Ideologie und Sprache. Er schützte den 17-Jährigen aber nicht davor, kriegsdienstverpflichtet zu werden – zunächst als Flakhelfer, dann als Soldat. Wenige Tage vor Kriegsende wurde er durch Granatsplitter schwer verletzt und geriet in Gefangenschaft.
Nach seiner Rückkehr nach Berlin absolvierte Günter de Bruyn einen Kurs als Neulehrer. Wenig später ließ er sich zum Bibliothekar ausbilden und arbeitete einige Jahre in diesem Beruf. 1961wagte er den Schritt in die Selbstständigkeit als freischaffender Autor. Das sind nun 50 Jahre, Respekt!
Günter de Bruyns erster Roman „Der Hohlweg“, 1963, wurde ein Verkaufserfolg und mit dem angesehenen Heinrich-Mann-Preis der Ost-Berliner Akademie der Künste geehrt. Elf Jahre später fällte der Autor ein vernichtendes Urteil über seinen Roman: Er sei gewaltsam konstruiert, unkonkret, verlogen. Der Stoff sei verschenkt, sein Autor auf dem „Holzweg“.
Es gibt nur wenige Schriftsteller, die als Scharfrichter in eigener Sache fungieren, ein eigenes Werk verreißen – und dies vor den Augen der Leserinnen und Leser. Das Vermögen, die eigenen literarischen Fähigkeiten radikaler Selbstkritik zu unterwerfen, ohne entlastende Gründe vorzutragen, gar auf Freispruch zu plädieren, spricht für Günter de Bruyn. Es macht ihn glaubhaft – als Autor, als Kritiker und ganz sicher auch als Empfänger eines Preises für literarische Kritik.
Die in den Folgejahren verfassten Bücher Günter de Bruyns haben viele Menschen angesprochen und berührt: Sie schilderten ungeschönt den Alltag in einer bedrängenden vormundschaftlichen Lebenswelt, sie stellten wirkliche Konflikte zur Diskussion.
Der Roman „Buridans Esel“ (1968) wurde von den Leserinnen und Lesern in der DDR geliebt – für seinen sozialkritischen Blick, seine subtile Ironie, seine meisterhafte Sprache. Er deckte Anpassungsmechanismen auf und entlarvte die immer wieder postulierte Überlegenheit der sozialistischen Moral als Phrase.
Auch der 1972 erschienene Roman „Preisverleihung“ schilderte bedrückende Erfahrungen aus dem DDR-Alltag: Opportunismus, Verdrängung, Schönfärberei, Rituale der Disziplinierung. Diese Themen interessierten die Leserinnen und Leser, denn sie deckten sich mit ihren eigenen Erfahrungen. Der Roman erschien 1974 auch in der alten Bundesrepublik.
In beiden Teilen Deutschlands als literarisches Ereignis wahrgenommen wurde die 1975 erschienene Biographie „Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter“.
Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR (1976) zählte de Bruyn zu jenen Intellektuellen, die gegen diese Entscheidung offen protestierten. „Hoffnung auf Rücknahme der Ausweisung hatte ich keine, doch musste ich mit unterschreiben, um nicht als Befürworter der Regierungsmaßnahme zu gelten“, erklärte er später.
Um auf die staatlicherseits zu erwartenden Strafmaßnahmen vorbereitet zu sein, entwickelten Günter de Bruyn und Gerhard Wolf die Idee, sich „ins Märkische und Historische zu begeben, zu missachteten oder vergessenen Dichtern, wie Schmidt von Werneuchen zum Beispiel oder Fouqué“, aber auch zu Christoph Friedrich Nicolai, Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann, Rahel Varnhagen von Ense und – natürlich – Theodor Fontane. Die Reihe „Märkischer Dichtergarten“ war geboren, sie beschäftigte beide ein ganzes Jahrzehnt – und in anderer Form darüber hinaus. (Ich selbst gehörte zu den dankbaren Lesern dieser Reihe und erinnere mich an die für die einzelnen Bände verfassten exzellenten Nachworte.)
Günter de Bruyn richtete sich aber im „Historischen“ keineswegs gemütlich ein. Der DDR-Alltag mit all seinen Zumutungen saßauch ihm im Nacken, er wurde von der Staatssicherheit überwacht und musste widerliche „Zersetzungsmaßnahmen“ in seinem Umfeld erdulden. De Bruyn verteidigte seine Autonomie und opponierte. Er plädierte (zum Beispiel) für die Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes – unter dem Namen „Sozialer Friedensdienst“. Eine ziemliche Provokation, schließlich war erst wenige Jahre zuvor an DDR-Schulen das Pflichtfach Wehrunterricht etabliert worden!
Subtile, gleichwohl kenntliche Gesellschaftskritik blieb ein Markenzeichen der Texte Günter de Bruyns. Sein Roman „Die neue Herrlichkeit“ sollte im Frühjahr 1984 gleichzeitig in beiden deutschen Staaten erscheinen, die Westausgabe wurde auch ausgeliefert. Die gedruckten 20.000 Exemplare der DDR-Auflage jedoch wurden auf Verlangen der Zensur einbehalten. Erst ein Jahr später erschien „Die neue Herrlichkeit“ auch in der DDR. Der Autor kommentierte die Zensurmaßnahme so: „Ich war weder verzweifelt noch wütend, eher war es Genugtuung, was ich spürte. (...) nun war ich im Abseits, in das ich gehörte. Mein Missverhältnis zum Staat war offenkundig geworden.“ Ermutigt durch den Vertragsabschluss mit S. Fischer wertete de Bruyn das DDR-Verbot eben auch als „fröhlichen Abschied von dem ständigen Rücksichtnehmen auf die Zensur. Kompromisse wollte ich mir fortan nicht mehr gestatten.“
Auf dem Schriftstellerkongress 1987 forderte de Bruyn die Abschaffung der Zensur. Sie schädige das Ansehen der Gesellschaft, nähre Zweifel an ihrer Reformfähigkeit und beraube sich der Antriebskraft der Kritik. Die von der SED-Führung vehement verteidigte These zweier deutscher Nationen und Kulturen hat de Bruyn nie akzeptiert. Er hat sie vielmehr durchs eigene Werk, durchs eigene Vorbild widerlegt. Mit seiner Biographie und seinem Werk ist er das beste Beispiel dafür, dass die sprachlich-kulturelle Einheit der Nation ein stärkeres und belastbareres Band darstellt als die Ideologie.
Meine Damen und Herren,
Günter de Bruyn musste nach 1989/90 weder thematisch noch ästhetisch einen Neuanfang versuchen. Er brauchte das Schreiben nicht neu zu erlernen. Er hatte seine Leserschaft in beiden Teilen Deutschlands und behielt sie auch.
Seit dreieinhalb Jahrzehnten nun arbeitet de Bruyn „doppelgleisig“ (wie er es selbst nennt) – als Erzähler, aber eben auch als literaturhistorischer Rechercheur, als Literaturkritiker und Essayist, als Herausgeber und Kommentator, mithin als Kulturvermittler von Rang. Dabei erwarb er sich vor allem große Verdienste bei der Erkundung, Neubewertung und Vermittlung der preußischen Geschichte und Kultur – fernab jeder ideologisch begründeten Einfältigkeit, fernab jeder Verklärung.
Seine sprachlich brillanten Studien und Essays zeichnen ein facettenreiches Bild des preußischen Staates, seiner Widersprüche, Wirren und Reformen – und seiner besten Traditionen: der Blüte der Künste und Wissenschaften und des Austauschs in den literarischen Salons.
Die Bände „Preußische Trilogie“ (1999-2003 / mit „Die Finckensteins“, „Preußens Luise“ und „Unter den Linden“), „Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786-1807“ (2006) und „Die Zeit der schweren Not: Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807-1815“ (2010) sind Meisterwerke der Geschichtsschreibung, sind faszinierende, weil lebensnahe Milieu- und Sozialstudien einer untergegangenen Epoche. Sie befördern die Neuvermessung eines historischen und kulturellen Erfahrungsraumes und tragen zu einem differenzierteren Verständnis der deutschen wie euro-päischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts bei.
Danach befragt, was ihn an Preußen besonders interessiere, antwortete de Bruyn: „Mich fasziniert nach wie vor die Fülle innovativer Köpfe, die es in Preußen um 1800 gab. Nehmen Sie einen intellektuellen Militär wie Clausewitz, nehmen Sie Fouqué, der ein sensibler Förderer des literarischen Nachwuchses war. Da berührt sich der Geist von Potsdam mit dem Geist von Weimar. Und letzterer ist bekanntlich das Beste, was wir haben.“
Nicht weniger wichtig als die historisch-literarischen Arbeiten sind de Bruyns kritische Essays, Einlassungen und Kommentare zu zeitgeschichtlichen Fragen, zur Mentalität der Deutschen im Vereinigungsprozess, zum Stand der Deutschen Einheit. Vehement wirbt er für den Abbau von Vorurteilen und Schuldzuweisungen und die Anerkennung unterschiedlicher Lebenserfahrungen. Der Autor vertraut auf die aufklärerische Kraft des guten Arguments und auf das Stilmittel der freundlichen Ermunterung. Ich erinnere an seine Essay-Sammlung „Jubelschreie, Trauergesänge, deutsche Befindlichkeiten“ (1991) ist dafür nur ein Beispiel.
Und de Bruyn ist ein großer Mahner, ein Ermahner zu sorgsamem Umgang mit der deutschen Sprache: „Der Widerstand gegen die Sprachverluderung zeugt weder von Fortschrittsfeindschaft noch von Nationalismus, wohl aber von Sorge um unsere kulturelle Identität. Deshalb sollten wir unsere Sprache wie unsere Baudenkmäler und die Regeln unseres Zusammenlebens zu schützen versuchen, auch wenn diese Abwehr dem Kampf gegen Windmühlenflügel zu gleichen scheint. Hat es doch auch ein Don Quijote zu ewigem Nachruhm gebracht.“
Essays und Erzählungen von Günter de Bruyn lesen, das ist Sprach-pflege, das ist vergegenwärtigte Erfahrung dessen, was der deutschen Sprache als humaner Ausdrucksreichtum möglich ist und was ihr verloren zu gehen droht.
Ich gratuliere herzlich zum Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay, der ihm heute verliehen wird. Der bedeutende Kritiker des Sturm und Drang, Johann Heinrich Merck, war – anders als de Bruyn – als literarischer Autor nicht sehr erfolgreich. Seine Verdienste bestehen vor allem in seiner langjährigen Tätigkeit als Beförderer von Literatur, als kritischer Vermittler literarischer Texte. Und in diesem Punkt treffen sich beide.
Die Ehrung ereilt den Autor rechtzeitig zu seinem 85. Geburtstag, den er in drei Tagen (1. November) begeht. Auch zu diesem Jubiläum gratuliere ich schon heute herzlich und wünsche ihm alles Gute, Gesundheit – und uns weitere Texte von so klarem und freundlichem Deutsch!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!