Unterschrift Wolfgang Thierse

Laudatio Gesine Schwan 2011

 
28. Oktober 2011

Laudatio zur Verleihung des Internationalen Brückepreises für Gesine Schwan

Laudatio aus Anlass der Verleihung des Internationalen Brückepreises der Europastadt Görlitz/Zgorzelec 2011 an Gesine Schwan, in der Synagoge Görlitz, am 28. Oktober 2011:

 

„Eine europäische Brückenbauerin will ich sein“. Das hat Gesine Schwan 1999 bei ihrem Amtsantritt als Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) gesagt. Brücken bauen – das ist ihr Lebensthema.

Gesine Schwan will nicht weniger als „eine bessere, lebenswerte Welt, die allen Menschen die Chance bietet, ihr Leben selbstbestimmt und sinnvoll zu führen“. Sie fordert dazu Gerechtigkeit, Solidarität und ein gleiches Recht auf Freiheit, das allen Menschen zusteht.

Als Einzelperson, das weiß Gesine Schwan, kann sie dieses Anliegen nicht verwirklichen. Dass aber Viele dies gemeinsam vermögen, davon ist sie zutiefst überzeugt. „Allein ist nicht genug. Für einen neue Kultur der Gemeinsamkeit“ – so lautet nicht nur der Titel eines autobiografischen Buches von Gesine Schwan, sondern ihr politisches Credo.

Freude am Austausch, Interesse an wechselnden Perspektiven und an „spannenden Gesprächen“ misst sie dabei große Bedeutung bei. In ihren Augen stellen diese Eigenschaften einen eigenen großen Wert dar. Sie repräsentieren eine besondere Haltung – jene zugewandte, verbindliche und verbindende Haltung, durch die sich etwas wie eine „europäischen Identität“ erst entwickeln kann.

Grenzen zu überwinden, Menschen offen, mit Respekt und Neugier statt mit Angst zu begegnen, dies hat Gesine Schwan schon früh gelernt.

Sie wurde 1943 in Berlin geboren. Ihre Eltern – der Vater Oberschulrat, die Mutter Fürsorgerin – waren entschiedene Gegner des Nationalsozialismus. Sie versteckten im letzten Kriegsjahr ein jüdisches Mädchen bei sich zu Hause, kümmerten sich um Schwächere. Dies hat sie nachhaltig geprägt. Wer sie kennt, weiß, dass sie nicht nur solidarisches Verhalten einfordert, sondern dieses selbst vorlebt.

Die Erbschaft der NS-Zeit und die Rolle ehemaliger Nationalsozialisten in der jungen Bundesrepublik waren Thema lebhafter Diskussionen in ihrem Elternhaus. So wurde Gesine Schwan schon früh politisiert, für die historische Verantwortung Deutschlands sensibilisiert und für die Demokratie gewonnen. Ihre Eltern statteten sie – wie sie selbst sagt – mit einem Auftrag aus:
„Wir sollten uns in der neuen Demokratie und für sie engagieren und für die Wiedergutmachung des Unheils, das Nazi-Deutschland insbesondere bei seinen Nachbarn in Europa angerichtet hatte.“

Ihre Eltern sorgten dafür, dass Gesine Schwan ein französisches Gymnasium besuchte. Dort erlernte sie nicht nur die Sprache des einstigen „Erzfeindes“. Vor allem erfuhr sie, dass sich mit der Sprache eine neue Welt, eine unbekannte Kultur auftat; dass die Beschäftigung mit Unbekanntem bereichern, ein veränderter Blickwinkel unveränderlich geglaubte Gewissheiten erschüttern kann – eine prägende Erkenntnis für Gesine Schwan.

Nach Ende ihrer Schulzeit studierte sie zunächst Romanistik und Geschichte an der Freien Universität Berlin, dann Politik, Philosophie, Theologie in Freiburg. Dort wandte sie sich – nur scheinbar überraschend – der polnischen Sprache, Kultur und Philosophie zu.

Die persönliche Nähe zu Polen ist eine Grundkonstante im Leben Gesine Schwans. Polen bezeichnet sie als „geistige Lebensform“.

Ihre Mutter stammte aus Oberschlesien, sie vermittelte den Kindern, dass das selbstverständliche Zusammenleben von Polen und Deutschen im Alltag kein Problem sein könne, sein dürfe. Ihr Polenbild kam ohne Ressentiments aus.

So brauchte ihr Lehrer, der Philosoph Wilhelm Weischedel, nicht lange, um die Doktorandin Schwan davon zu überzeugen, über Leszek Kolakowski zu promovieren, und nicht – zum Beispiel – über Adorno.

Mit ihrer Dissertation über den polnischen Philosophen und Stalinismus-Kritiker vertiefte Gesine Schwan ihre Kenntnisse und ihre Beziehungen zu Polen. Sie selbst betrachtet diese Arbeit als Weichenstellung für alles Weitere.

Sie eröffnete ihr die Chance, das Denken der polnischen Dissidenten „von innen“ her kennenzulernen und Freundschaften zu schließen – mit Leszek Kolakowski, Bronislaw Geremek, Adam Michnik. Ihre Polen-Erfahrungen der 60er Jahre vermittelten ihr – wie sie es sagt – das „Bild eines ungemein lebendigen Freiheitswillens. Ein Geist des Widerstands und ein starker Individualismus durchzogen die ganze Gesellschaft.“

Politisches Engagement und wissenschaftliche Arbeit gingen ab diesem Zeitpunkt Hand in Hand. Gesine Schwan trat 1972 in die SPD ein, um – wie viele in dieser Zeit – Willy Brandt und seine neue Ostpolitik zu unterstützen. Sie war jedoch in ihren Ansichten entschiedener und aktiver als Andere. Sie gehörte zu den Mitbegründerinnen des Seeheimer Kreises. Sie hatte die Unfreiheit der politischen Verhältnisse in Polen kennengelernt und wünschte sich mehr Unterstützung für die oppositionellen, antikommunistischen Kräfte, auch in der SPD.

Als Wissenschaftlerin wechselte sie Anfang der 1970er Jahre von Freiburg nach Berlin, wo sie – in einer äußerst turbulenten Zeit – am Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin lehrte.

Sie sah sich Studierenden gegenüber, die von „sit-ins“ bis zu Tomaten- und Eierwürfen verschiedene neue Protestpraktiken einübten. Sie musste erleben, wie Ihr Ehemann, Alexander Schwan, von extremistischen Studenten physisch angegriffen wurde. Obwohl er sich aktiv für die Mitbestimmungsrechte der Studierenden einsetzte, beschimpften ihn radikale Linke als „Konterrevolutionär“.

Gesine Schwan hieß weder die Methoden dieser Studierenden gut noch teilte sie deren Ziele oder Erfahrungen. Aber sie blieb in Berlin, setzte sich mit ihnen auseinander und habilitierte über die philosophischen und politökonomischen Voraussetzungen der Gesellschaftskritik von Karl Marx.

1977 übernahm sie dann eine ordentliche Professur für politische Theorie und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Lehr- und Forschungstätigkeiten führten sie nach Cambridge, Washington und New York. Sie lernte erneut eine andere, die angelsächsische Wissenschaftskultur kennen. Zahlreiche Publikationen zu Aspekten der politischen Philosophie und Demokratietheorien entstanden.

Ebenfalls 1977 wurde sie in die Grundwertekommission der SPD berufen. Politische Theorie und Praxis galt es zu verbinden. Allerdings blieb sie nur sieben Jahre. Sie äußerte öffentlich Kritik an der Politik Willy Brandts. In der SPD sah sie das Bewusstsein über den realen Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur schwinden. Dieser Kritik wegen wurde sie – das Geschehen lässt sich kaum beschönigen – aus der Kommission hinausgeworfen. Ein Vorgang, der Gesine Schwan sehr verletzt hat.

Eine bittere Zeit der Entfremdung folgte. Auch für das 1987 ausgehandelte SPD-SED-Papier hatte Gesine Schwan kein Verständnis: Der Verzicht auf die Idee der Freiheit bei der Definition des Friedens in einem Grundsatzpapier, und sei es nur aus taktischen Erwägungen, das erschien ihr ganz und gar unerträglich.

Ich selbst habe die damalige Entscheidung korrigiert und Gesine Schwan 1996 erneut in die Grundwertekommission berufen. Ihre Überzeugungen, ihre Prinzipien musste sie dafür nicht ändern. Gesine Schwan ist – und bleibt hoffentlich noch lange – eine wichtige Stimme in der SPD.

In den 1990er Jahren prägten zunehmend hochschulpolitische Aufgaben die Arbeit von Gesine Schwan. 1992 zur Dekanin am Otto-Suhr-Institut gewählt, führte sie dieses Institut durch die ersten und schwierigen Jahre der Wiedervereinigung in Berlin.

Dass Gesine Schwan 1999 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) wurde, kann man nur als Glücksfall für die Begründung einer deutsch-polnischen Tradition dieser Universität beschreiben. Sie selbst konnte all ihre Erfahrung als Dekanin, als Polen-Kennerin und als international vernetzte Wissenschaftlerin einbringen und mit ihren bildungspolitischen und demokratietheoretischen Vorstellungen verbinden.

Konsequent setzte sie auf Interdisziplinarität, auf Mehrsprachigkeit und auf Internationalität der Studiengänge. Statt immer mehr Spezialisten auszubilden, denen immer weniger der Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin gelingt, plädierte und plädiert sie für die verstärkte Förderung von „gebildeten Generalisten“, die sich in mehreren Bereichen der Wirklichkeit auskennen, also auch kommunikationsfähig sind.

Gesine Schwan kann Menschen politisch überzeugen und, ja, begeistern. Das hat sie bei ihren Kandidaturen um das Amt der Bundespräsidentin 2004 und 2009 unter Beweis gestellt. Sie führte engagierte Wahlkämpfe, hat Debatten angestoßen. 2004 schrieb die TAZ, Gesine Schwan habe die Wahl „zumindest ideell gewonnen“ – und griff damit eine weit verbreitete Stimmung auf. 2009 kommentierte die TAZ ihren Wahlkampf mit der Titelzeile: „Wider das Unterkomplexe“ – und würdigte damit den besonderen Anspruch an Präzision und „Tiefenschärfe“ der Gesine Schwan in Gesprächen und als Vermittlerin zwischen Wissenschaft,  Politik und Gesellschaft.

Vermittelt und im besten Sinne des Wortes „Brücken gebaut“ hat Gesine Schwan auch als „Koordinatorin der Bundesregierung für die grenznahe und zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit mit der Republik Polen“. Nach ihrer Ernennung 2004 brauchte sie nicht erst um Anerkennung zu werben. Denn neben ihrer Kennerschaft Polens brachte sie eines mit: Glaubwürdigkeit. Sie ist glaubwürdig, weil sie mit ihrer ganzen Biographie für die Versöhnung und Verständigung mit dem Nachbarland Polen stand und steht.

Verlässlichkeit, tiefes Verständnis für das Nachbarland, Erfahrung im Austausch und einen langen Atem, um Ressentiments zu überwinden, Vorbehalte auszuräumen, all dies brachte die „Klassikerin eines niveauvollen deutsch-polnischen Gespräches“, wie der polnische Botschafter in Deutschland, Marek Prawda, Gesine Schwan einmal bezeichnete, in ihr Amt als Koordinatorin mit. Sie prägte das Amt nachhaltig. Auch, weil sie stets klar und kenntlich Position bezog und revisionistischen Geschichtsdeutungen keinen Raum ließ.

Wer eine „Zukunft in Freiheit“ gewinnen will, muss sich – so sieht es Gesine Schwan –, kritisch mit der eigenen Identität und Erinnerung auseinandersetzen – auch mit der kollektive Erinnerung, mit dem Trennenden und Verbindenden im nationalen Selbstverständnis. Erst so kann ein Bewusstsein für historische Verantwortung erwachsen.

Auch wenn Gesine Schwan inzwischen nicht mehr Präsidentin der Viadrina oder Koordinatorin der Bundesregierung ist, bleibt sie ihren politischen Koordinaten verpflichtet. Gemeinsam mit einer Reihe von Mitstreitern wie ihrem zweiten Ehemann, Peter Eigen, hat sie 2009 die „Humboldt-Viadrina School of Governance“ gegründet. Sie ist deren erste Präsidentin.

Die Schule bietet ein berufsbegleitendes Studium zum „Master of Public Policy“ an. Es zielt darauf ab, den Gemeinsinn zu professionalisieren. Alle „Weltverbesserer“, „Mitgestalter“ und „Problemlöser“ unter uns können dort lernen, wie sie sich effektiv einbringen und politischen Zielen zum Erfolg verhelfen können.

Ein Studiengang, mit dem sie ein Zeichen setzt: gegen Politikverdrossenheit, Politikverachtung, Verantwortungslosigkeit und Apathie, die unsere politische Kultur und damit unsere Demokratie in Deutschland und Europa schwächen.

Als engagierte Demokratin und Europäerin ist Gesine Schwan mit vielen Auszeichnungen geehrt worden. Heute kommt ein weiterer Preis dazu: der Internationale Brückepreis der Europastadt Görlitz-Zgorzelec 2011.

Dieser Preis ist eine Ehrung für Persönlichkeiten, die sich – ich zitiere aus der Satzung – „um die demokratische Entwicklung und die Verständigung in Europa in herausragendem Maße verdient gemacht haben. (…) Zentrales Kriterium für die Auswahl des Preisträgers soll dessen persönlicher Einsatz sein, mit dem er Anstöße für integratives Denken und Handeln liefert.“

Ich hoffe gezeigt zu haben, dass genau dies in besonderer Weise auf Gesine Schwan zutrifft. Dass auch Adam Michnik den Preis bereits erhalten hat, nehme ich als Bestätigung.

In seinem Artikel „Liebe Gesine Schwan, das trennt uns noch“ legte er 2004 seinen Standpunkt zu den deutsch-polnischen Beziehungen dar und sprach sie mit den Worten an: „Ich wende mich an dich, weil ich weiß, dass dir diese Fragen sehr am Herzen liegen. Du hast dazu beigetragen, das deutsch-polnische Erbe von Hass und Misstrauen in Dialog und Freundschaft umzugestalten.“

Eine solche Würdigung ist kaum zu überbieten. Bleibt mir nur, hinzuzufügen:

Unsere Gesellschaft braucht Brückenbauerinnen wie Dich, liebe Gesine, die ein Beispiel dafür sind, wie Dialog und Freundschaft in Deutschland, Polen und in Europa gelingen können.

Herzlichen Glückwunsch – und: Salut, liebe Gesine!