Wolfgang Thierse hat auf dem 100. Katholikentag in Leipzig unter anderem mit einer Bibelarbeit mitgewirkt.
Biblischer Impuls
Die Entstehung des Menschen. Genesis 1, 1.26-32a
Wir sind in Leipzig, in der Stadt der friedlichen Revolution. Wir sind in der Nikolaikirche, dem Ort schlechthin der friedlichen Revolution. Vor 27 Jahren, im Spätsommer und Herbst 1989 gingen in dieser Stadt erst Hunderte, dann Tausende, dann Hunderttausende auf die Straße. Sie brachen aus dieser Kirche auf und sie hatten ihre Angst – die die halbe Macht der Diktatur ist – überwunden und ihren Mut und ihre Sprache wiedergefunden und riefen „Wir sind das Volk“ und „Keine Gewalt“.
Eine Zeit der Euphorie, des Aufbruchs, der radikalen Veränderung begann. Wir wissen inzwischen, nicht alle Träume wurden Wirklichkeit. Ein goldenes Zeitalter des Friedens, das manche erhofften, ist nicht angebrochen. Einen weltweiten Siegeszug der Demokratie haben wir nach dem Ende des Kalten Krieges nicht erlebt. Alte und neue Konflikte beunruhigen uns. An die Stelle der geordneten Welt der Zweiteilung, des gefährlichen Gegensatzes zweier Systeme ist eine Weltunordnung getreten, auf die die politischen Institutionen, Strategien, Instrumente des 20. Jahrhunderts nicht mehr richtig passen.
Die ökologische Krise ist nicht bewältigt, die europäische Finanzkrise ebenso wenig. Die Gegensätze zwischen arm und reich, zwischen Süd und Nord sind nicht geringer geworden, im Gegenteil. Die Umweltzerstörung geht weiter. Gewalt und Krieg finden an vielen Orten der Welt statt, selbst in Europa, vor allem aber im Nahen Osten. Eine ungeordnete Welt voller Konflikte, die Gefühle tiefer Unsicherheit und Ohnmacht auslöst.
Ein gutes Vierteljahrhundert ist das also erst her: Die friedliche Revolution, die Vereinigung Deutschlands und die Überwindung der Spaltung Europas. Und wir erleben wieder eine neue dramatische Wendung der Geschichte. Hunderttausende Flüchtlinge stürmen nach Europa, nach Deutschland – eine Bewegung, die vermutlich anhalten wird, auch wenn inzwischen Sperren unterschiedlicher Art errichtet worden sind. Diese Bewegung trifft auf ein verunsichertes, zerstrittenes wieder gespaltenes Europa, Deutschland darin eingeschlossen.
Wir erleben in unserem Land eine gefährliche Stimmung von Unzufriedenheit, Ungeduld, Gereiztheit, Bitterkeit und zunehmender Aggressivität. Pegida, Legida und, ja, auch die Wahlerfolge der AfD sind dafür unübersehbare Zeichen. Im Internet nehmen Hasskommentare, Beleidigungen, Drohungen zu. Auf der Straße nimmt die Gewalt zu, gegen Flüchtlinge, gegen Journalisten, gegen Demokraten. Die Zahl der Brandanschläge und Gewaltattacken gegen Flüchtlingsheime hat sich vervielfacht, selbst unter Flüchtlingen gibt es Gewalttaten.
Nationalismus und Rassismus werden wieder politikfähig in Europa, in Deutschland, in Sachsen. Vorurteile, Ressentiments, Hass gegen Minderheiten, gegen Ausländer, gegen demokratische Politiker werden immer selbstbewusster auch öffentlich artikuliert. Ein Klima der Menschenverachtung, der Verrohung der sozialen Sitten greift um sich. Elementare Regeln des politisch-menschlichen Anstands, des Respekts vor der persönlichen Ehre und der Menschenwürde scheinen für nicht wenige im Lande nicht mehr zu gelten.
In dieser Situation gilt es mehr denn je, die Gebote der Mitmenschlichkeit, der Solidarität auch über das eigene Interesse, das eigene Land hinaus zu verteidigen. Es gilt, Humanität neu zu lernen und zu praktizieren, wie es viele tun im Lande, Christen und Nichtchristen. Sie leben die Willkommenskultur, über die wir staunen, über die wir glücklich sein dürfen, für die es der Kraft, der politischen Ermutigung bedarf, aber auch der geistigen und spirituellen Ermunterung.
„Seht, da ist der Mensch“ – das ist das Leitwort des Katholikentages. Es ist das Ecce homo aus der Passionserzählung des Johannes-Evangeliums. Mit diesen Worten zeigt Pilatus auf den gegeißelten, mit einer Dornenkrone bekränzten, blutig geschlagenen Jesus und gibt ihn dem Spott der Menge preis.
Das ist der biblische Humanismus des Neuen Testaments, der mit der Weihnachtsgeschichte beginnt – mit dem spektakulären, unglaublichen Ereignis der Menschwerdung Gottes – und der mit Kreuzigung und Auferstehung nicht endet.
Und der erste Text, der erste Text des biblischen Humanismus – er steht ganz am Anfang des Alten Testaments, in der Thora, im 1. Buch Mose, in der Genesis. Aus ihm ist der Text unseres heutigen biblischen Impulses, also Genesis 1, 26-31a entnommen.
1 Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde;
26 Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. 27 Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. 28 Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen. 29 Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen. 30 Allen Tieren des Feldes, allen Vögeln des Himmels und allem, was sich auf der Erde regt, was Lebensatem in sich hat, gebe ich alle grünen Pflanzen zur Nahrung. So geschah es. 31 Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.
II.
Der Text aus Genesis 1 ist Christen und selbstverständlich auch Juden sehr vertraut. Wir Katholiken hören ihn als Teil der großen Liturgie der Osternacht.
Und er hat, weil er zum Eröffnungstext der Bibel gehört – eine lange und höchst widersprüchliche Interpretationsgeschichte hinter sich.
Wird hier der Mensch zur „Krone der Schöpfung“ gemacht, lässt sich aus dem Text eine triumphalisitische Sieger- und Unterwerfungsanthropologie gewinnen, wie die Vorwürfe lauten?
„Macht Euch die Erde untertan und herrscht … über alles … auf Erden“ – beginnt nicht mit diesem Text die problematische Geschichte menschlicher Zivilisation, der umfassenden Vernutzung der Erde. Gerade unser Text wurde immer wieder als Beleg dafür gelesen, dass die jüdisch-christliche Tradition rücksichtslose Ausbeutung der Natur legitimiere und deshalb mitverantwortlich sei für die ökologische Krise, in die der menschliche Fortschritt unseren Globus unter dem Motto der Naturunterwerfung gebracht hat.
Schauen wir uns den Text genauer an.
Es ist der Schlussteil des ersten Schöpfungsberichtes, dessen erster Satz lautet: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Dieser priesterschriftliche Schöpfungstext (wie ihn die Exegeten nennen) ist streng komponiert – viel strenger als der zweite Schöpfungsbericht, der in Genesis 2, 4b – 25 steht und der vermutlich älter als unser Text ist.
Die Komposition besteht aus zwei übereinander gelegten Strukturen: die inhaltliche Abfolge der Schöpfungsereignisse und die zeitliche Abfolge der sieben Tage, in denen das Werk verrichtet wird, den Sabbat als Tage der Ruhe eingeschlossen.
Auch in der inhaltlichen Abfolge der sieben Schöpfungstage lässt sich eine Doppelstruktur erkennen: Der erste, vierte und siebte Schöpfungstag, also Anfang, Mitte und Ende des Textes sind vom Thema „Zeit“ als grundlegender Ordnung der Welt und des Lebens bestimmt. Der erste Schöpfungstag bringt den Rhythmus von Tag und Nacht hervor: der vierte Schöpfungstag ermöglicht durch Sonne und Mond die zählbare Folge von Tagen, Monaten und Jahren sowie die Festlegung der herausgehobenen Festzeiten; der siebte Schöpfungstag ermöglicht den Rhythmus der Woche und vor allem die qualitative Unterscheidung einer Zeit des Schaffens von einer Zeit der Ruhe, die erst der übrigen Zeit Sinn und Fruchtbarkeit gibt.
Am zweiten und dritten Schöpfungstag wird der Lebensraum erstellt (Pflanzen und Bäume sind nach den Verfassern keine Lebewesen auf der Erde, sondern Teil der Erde selbst: mit der pflanzentragenden Erde hat Gott allem Lebenden den Tisch bereitet). Am fünften und sechsten Schöpfungstag werden die Lebewesen erschaffen, die in den an den Tagen 2 und 3 errichteten Lebensräumen leben. Diese Struktur verdeutlicht: „Schöpfung bedeutet nach Gen 1 die Ermöglichung von Leben in einem allen Lebewesen gemeinsam zugewiesenen Lebensraum, wobei der ordnenden Kategorie der Zeit eine wesentliche Rolle zukommt. Dass alles, was lebt, seinem ihm zugewiesenen Lebensraum und die ihm jeweils zugewiesenen Lebenszeiten einhält, ist nach Gen 1 die Voraussetzung Gottes dafür, dass Leben als Zusammenleben möglich ist“ (E. Zenger: Gottes Bogen in den Wolken).
Die einzelnen Textabschnitte (Schöpfungsereignisse) sind strukturiert durch immer wiederkehrende Formeln: Und Gott sprach (Redeformel); und so geschah es (Entsprechungsformel); und Gott sah, dass es gut war (Billigungsformel); und danach wurde es Abend, und es wurde Morgen (Tagesformel). Diese Formeln vor allem erzeugen den Eindruck regelhafter Strenge und Ordnung, der den Text kennzeichnet und der Ausdruck seiner Botschaft ist: Gott ordnet das Chaos, er setzt eine kunstvolle und stabile Ordnung der Welt, in die der Mensch eingeordnet ist und in die er sich einordnen kann und soll.
Das ist wohl wirklich der Sinn, die Pointe, die Botschaft dieser so streng komponierten Erzählung: Gott hat euch Menschen eine gute Welt geschaffen. Seine Schöpfung ist eine geordnete Welt, die Schöpfungsordnung ist eine Friedensordnung. Sie ist euer gemeinsamer Lebensraum, eure gemeinsame Heimat, die Heimat für alle Lebewesen, für die Tiere und die Menschen! Begreift das doch, vergesst das nicht!
Wird hier ein Paradies erzählt? Gewiss. Aber war die Welt, in der der Text entstand, eine solche gute Welt? Mit Sicherheit nicht, denn als diese Schöpfungsgeschichte aufgeschrieben wurde, war das Volk Israels im babylonischen Exil, also hatte die Erfahrung von Vertreibung und von Unfreiheit gemacht.
Erinnert wird deshalb an einen ursprünglichen Heilszustand am Anfang der Welt und diese Erinnerung wird denen entgegengehalten, die ihn zerstört haben und an die dieser priesterschaftliche Text gerichtet ist: In Genesis 3 folgt die Geschichte des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Garten Eden, in Genesis 4 die Geschichte des Brudermords von Kain an Abel. Und dann die Geschichte von der Sintflut und vom Bund Gottes mit Noah und seinen Söhnen. Und dann die Erzählung vom Turmbau zu Babel … usw. usf.
Genesis 1 ist der Kontrast zu all dem! Und das ist der Text vor allem durch das, was er über den Menschen sagt.
- „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn“. (Vers 27).
- „Als Mann und Frau schuf er sie“ (ebenfalls Vers 27).
- „Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Lande regen. Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen“ (Verse 28 und 29).
Die erste und fundamentale Aussage heißt also: Gott vollendet die Schöpfungsordnung, indem er den Menschen nach seinem Bilde schafft, als sein Abbild.
Eine unerhörte Aussage! Denn wir können sie doch nur so verstehen, dass der Mensch Stellvertreter und Repräsentant Gottes in der Schöpfung sein soll, der auf seinen Schöpfer zurückverweist, auf Gott, der selbst – unsichtbar und bildlos – auf sein Geschöpf hinweist.
Abbild, Bild Gottes, Gottesebenbildlichkeit, Gottesbildlichkeit, Gottesverwandtschaft, Gotteskindschaft: Welchen Begriff wir auch immer wählen, es geht um ein unzertrennbares Verhältnis, eine unzerstörbare Beziehung zwischen Gott und Mensch. Das ist der unhintergehbare Kern jüdischer wie christlicher Anthropologie: Über Gott kann nur sprechen, wer über den Menschen spricht, über den Menschen kann nur sprechen, wer über Gott spricht!
Alle Vorstellungen von der Würde des Menschen, jedes Menschen, haben hier ihren Anfang, finden hier ihre tiefste Begründung – in der Gotteskindschaft, in der Gottesbildlichkeit des Menschen!
Denn das ist das religionsgeschichtlich Besondere, ja Umstürzende: Die „Imago Dei“, die in den altägyptisch-orientalischen Schriften ein Privileg des Königs war, wird zu einer Zuschreibung für den Menschen schlechthin! Das ist als „Demokratisierung“ der Imago-Theologie bezeichnet worden: Menschen sind als solche Bild Gottes, nicht aufgrund besonderer Leistungen oder besonderen Ranges oder bestimmter Eigenschaften, sondern allein aufgrund ihres Menschseins. Die Würde des Menschen ist unabhängig von seiner Leistung oder seiner Nützlichkeit, seiner Schönheit oder seinem Erfolg – weil sie in der Gottesbildlichkeit des Menschen gegründet ist! Auch wenn heute das Wort „Menschenwürde“ fast schon inflationär und meist gänzlich folgenlos im Munde geführt wird, sollten wir das wahrlich Revolutionäre dieser biblischen Aussage wahrnehmen und fragen, was daraus heute zu folgen hat für den Umgang mit Menschen, für Anfang und Ende des Lebens.
Eine zweite fundamentale Aussage des Textes gilt es festzuhalten: Der Mensch ist Bild Gottes als Mann und Frau, nicht anders. Es gibt keine Differenzierung der Gottesbildlichkeit zwischen den Geschlechtern.
Gerade weil dieser Satz – „Als Mann und Frau erschuf er sie“ – so lapidar ist, erlaubt er keine andere Interpretation, erlaubt er keinerlei Abwertung des weiblichen Geschlechts. Im Gegenteil: Als Mann wie als Frau gleichermaßen verweist der Mensch als Gottes Bild auf den Schöpfer. Die Gleichwertigkeit der Geschlechter ist tiefer nicht begründbar und kann stärker nicht ausgedrückt werden!
Diese Aussage steht allem voran, was in anderen, späteren Texten der Bibel an Abwertendem über die Frau steht, von der Sündenfallgeschichte bis zum Apostel Paulus. Sie wird durch diese nicht aufgehoben, nicht widerlegt.
Die dritte, wesentliche Aussage unseres Textes betrifft die Stellung des Menschen in der Welt, seine Aufgabe in ihr, seinen Weltauftrag. Der Mensch erhält in der Eröffnungsgeschichte der Bibel eine hervorgehobene Stellung: Er soll sich die Erde unterwerfen, über die Lebewesen herrschen. Mit einem Segen überantwortet der Schöpfergott dem geschaffenen Menschen die Schöpfung, er überträgt sie in seine Verantwortung.
„Unterwerfen“ und „herrschen“ – das sind in unseren Ohren, zu recht, zwei unangenehme Worte. Aber wenn wir den Text genauer lesen, dann bemerken wir, dass der Schöpfungsbericht ein besonderes Ethos der Herrschaftsstellung des Menschen entwickelt. Er soll sich über die Erde ausbreiten, er wird gegenüber den Tieren privilegiert. Aber der Mensch soll als Bild Gottes herrschen. Welch‘ ein Anspruch!
Als Bild Gottes:
das heißt zunächst und vor allem wie ein Götterbild Erscheinungsweise und Offenbarungsmedium göttlicher Wirkmächtigkeit auf der Erde zu sein;
das heißt, wie ein König die Lebensordnung der Schöpfung zu sichern und zu schützen;
das heißt, wie ein Verwandter Gottes, (also wie ein Sohn, wie eine Tochter Gottes) die Welt als das ihm zugewiesene Heimathaus zu verwalten und zu gestalten. (Erich Zenger)
Ja, unser Text denkt anthropozentrisch, es geht in ihm um die hervorgehobene Stellung des Menschen in der Welt. Aber es ist trotzdem kein Text einer triumphalisitischen Unterwerfungsideologie, er rechtfertigt keine Zerstörung der Natur, keine ökologische Rücksichtslosigkeit. Denn in ihm ist eben der Mensch nicht das Maß aller Dinge. Von der „Krone der Schöpfung“ ist nicht die Rede. Sondern Gott setzt die Ordnungen, nur innerhalb dieser Ordnungen Gottes kann und soll der Mensch leben, nur in ihnen ist gutes Leben möglich, nur in ihnen ist alles sehr gut.
Die Übereignung der Erde als sein Lebensraum verpflichtet den Menschen zur Verantwortung für diese Ordnung, für die Bewahrung der Schöpfung, wie wir als Christen zu sagen gelernt haben. Gott hat das Ganze dieser Ordnung geschaffen und beauftragt den Menschen mit dem Blick auf das Ganze zu leben und zu handeln, beauftragt ihn, mit der Verantwortung für das Ganze der Welt, ihrer Ordnung, ihres Lebens, ihrer Lebbarkeit. Das ist der tiefe und verpflichtende Sinn der Rede von der Gottesbildlichkeit des Menschen.
Und genau das verdeutlicht auch der zweite Schöpfungsbericht in Genesis 1 in der Metapher des Hirten und Gärtners. „Und Gotte der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte“. So steht es in Gen. 1,2 im 15. Vers.)
Eine vierte Aussage, die mir wichtig ist, lässt sich unserem Text abgewinnen. Der Mensch, so sehr seine Stellung in der Welt hervorgehoben wird, ist nicht göttlich. Er ist – nur – Bild Gottes. Die Menschen sind Geschöpfe, keine Götter – auch nicht die Herrschenden, auch nicht die Könige, auch nicht die Mächtigen. Die Schöpfung – „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“ – die Schöpfung bietet trotzdem kein Leben in göttlicher Herrlichkeit. Das Geschaffene ist nicht selbst göttlich, die Geschöpfe sind nicht göttliche Wesen. „Im Gegensatz zu anderen Schöpfungsberichten des Alten Orients vollzieht der biblische Schöpfungsbericht geradezu eine Säkularisierung der Macht des Himmels, der Gestirne und auch der Ungeheuer aus der Tiefe. Der Himmel ist nicht länger eine göttliche Größe, sondern ein Geschöpf.“ (Michael Welker) Und das gilt eben nach unserem Text für alles Geschaffene, für die Welt insgesamt. Eine frühe Entzauberung der Welt, eine frühe Entzauberung des Menschen! Ein ideologiekritischer Text, nämlich eine Kritik an herrschenden Welterklärungsmythen der orientalischen Antike!
Wer das erste Buch der Bibel, die Genesis, weiterliest, der liest die Geschichte einer ungöttlichen Welt, die Geschichte des ungöttlchen Menschen. Er liest Geschichten von Menschen, die den Schöpfungsauftrag verraten und verletzen, liest Geschichten von Verblendung und Selbstzerstörung, von Bruderzwist und Krieg. Und er liest Geschichten von einem Gott, der um den Menschen ringt, der am liebsten seine Schöpfung rückgängig machen möchte und sich dennoch entschließt, seine Geschichte mit dem Menschen fortzusetzen.
Ein hochmögender, großer Anfang des Menschengeschlechts also und eine sehr ernüchternde Fortsetzung – und die Erzählung von der Geschichte Gottes mit den Menschen, die dann im Neuen Testament in der Menschwerdung Gottes in Jesus als ihre erlösende Fortsetzung bezeugt wird.
III.
Was können wir nun aus der Lektüre der Anfangsgeschichte der Bibel, aus der Vergegenwärtigung der Erzählung von der Erschaffung des Menschen für heute gewinnen? Was kann sie uns sagen, die wir sie mit einem Abstand von Tausenden Jahren lesen, zudem als ziemlich aufgeklärte Menschen? Die wissen, dass es sich um eine mythische Erzählung handelt, eine höchst metaphorische Geschichte. Die nicht naiv und umstandslos in die Gegenwart übersetzt werden kann, werden sollte. Und die wir dennoch auf uns Heutige beziehen sollen (wie immer bei Verkündigungstexten), denn deshalb hat die Katholikentagsleitung sie zum Gegenstand des biblischen Impulses heute gemacht.
Ich lese unsere Geschichte als Text eines biblischen Humanismus, von dem ich meine, dass er aktuell, ja dringlich sein könnte, sein sollte.
Das erste Element dieses biblischen Humanismus ist die Rede vom Geschaffensein des Menschen. Sich nicht selbst geschaffen zu haben, sich nicht selbst zu erschaffen, sondern ein Geschöpf zu sein – das ist durchaus provozierend, wirkt geradezu anstößig, stellt es doch den höchsten Wert unseres heutigen Selbstbewusstseins als Menschen infrage, relativiert ihn zumindest: nämlich unsere Autonomie, unsere freie Selbstbestimmung, unser unstillbares Bedürfnis, Autor der eigenen Lebensgeschichte sein zu können.
Damit Sie mich nicht missverstehen: Ich interpretiere unseren Text nicht als frontale Absage an menschliche Freiheit und Selbstverantwortung, denn – so die Schöpfungsgeschichte – Gott schafft den Menschen ja als freies Wesen (nämlich als Bild Gottes), das verantwortlich für die Schöpfung sein soll. Die Schöpfungsgeschichte verweigert sich der einfachen Alternative von Freiheitspathos und Fremdbestimmtheit.
Aber die Erinnerung an das Geschaffensein des Menschen enthält doch die Absage an menschliche Selbstvergottung und –vergötzung mit ihren Folgen, wie wir sie in den beiden autoritären Diktaturen des 20. Jahrhunderts erlebt haben, deren ideologische Grundlage eben die Selbstvergottung des Menschen war. Sie enthält doch die Warnung vor radikalisierter, vergesslicher Autonomie, die menschliche Bindungen und Abhängigkeiten nicht mehr wahrzunehmen, nicht mehr wertzuschätzen, nicht mehr einzugehen bereit ist.
Geboren zu werden, ist kein Akt der Selbstbestimmung!
Zu lieben und geliebt zu werden, das sind keine Akte der Autonomie!
Krank zu werden, zu sterben, das sind (noch) keine Akte der Selbstbestimmung!
Die Grundvollzüge menschlichen Lebens sind keine Akte reiner Autonomie und bleiben es, weil sie Ausdruck unserer Kreatürlichkeit, also unseres Geschaffenseins, sind. Sie binden uns zurück an die Natur, an die Gemeinschaft, an das Ganze – auf das Gott weist und das wir mit dem Namen Gott meinen.
Auch unsere köstliche und kostbare Freiheit leben, genießen und recht gebrauchen zu können, dafür sorgt die Freiheit nicht selbst, dafür muss die Gemeinschaft solidarisch und auf gerechte Weise sorgen.
In der Erinnerung an das Geschaffensein des Menschen meine ich auch eine schöne Einladung entdecken zu können, nämlich der Gefahren der Selbstüberschätzung und der Selbstüberforderung sich erwehren zu können. Also Gefahren, denen Menschen – vor allem auch Politiker – mit bösen Folgen unterliegen. Am schönsten übrigens ist diese Einladung im wunderbaren Gleichnis von den Vögeln im Himmel und den Lilien auf dem Felde im Matthäus-Evangelium ausgesprochen.
Das zweite Element des biblischen Humanismus, das mir wichtig erscheint, ist die Vorstellung vom Menschen, die in Genesis entworfen wird. Ein emphatisches und zugleich nüchtern-realistisches Menschenbild ist das, gerade wenn man nicht nur unseren kurzen Ausschnitt, sondern das ganze Buch Genesis mitbedenkt.
Der Mensch: Abbild Gottes, Mann und Frau, Teil der Natur und sie zugleich beherrschend, mit Verantwortung versehen und sie verletzend, zum Guten beauftragt und fähig, aber auch zum Bösen fähig, mit Vernunft begabt, also lernfähig, aber auch fehlbar und irrend, Großes leistend und in Unmenschlichkeit zurückfallend, Heiliger und Sünder.
Im Rückblick auf die menschheitliche Geschichte, namentlich des 20. Jahrhunderts, schreibt der Philosoph Volker Gerhardt: „Ein Mensch zu sein, stellt … eine Gefährdung für den Menschen selber dar, weil sich die Macht, die er im Wissen über seine Welt gewinnt, immer auch gegen ihn selbst zum Einsatz bringen lässt.“ Es gebe „Anlass genug, das Bewusstsein, ein Mensch zu sein, nach Art einer ‚Erbschuld‘ zu erfahren.“
Der gottesbildliche Mensch trübt durch sein Tun selber das Bild von Gott so ein, dass wir an Gott irre werden können, irre werden müssen.
Denn, so schreibt der Philosoph: „Dass der Mensch das schrecklichste aller Ungeheuer ist, haben schon die antiken Tragiker ihrem Publikum vor Augen zu führen gewusst. Die etwa gleichzeitig in Schriftform gebrachten biblischen Geschichten vom Sündenfall und Brudermord, von der Sintflut, von Sodom und Gomorrha bis hin zum späteren Geschehen lassen ebenfalls das Schlimmste vom Menschen befürchten. Und niemand wird behaupten wollen, die Geschichte der Menschheit habe ihre Anfänge widerlegt.“
Der kürzlich verstorbene große Schriftsteller und Nobelpreisträger Imre Kertesz hat immer wieder davon gesprochen und geschrieben, das Auschwitz kein Unfall, kein nicht erklärbares Unglück war, sondern das systematische Ergebnis unserer Kultur, der Kultur einer schier grenzenlosen „Biegsamkeit“ (wie er es nannte) des modernen Menschen, der Instrumentalisierbarkeit, der Anpassungsfähigkeit des „funktionalen Menschen“.
IV.
Wir können heute nicht mehr in den höchsten Tönen vom Menschen denken und sprechen. Die Bibel jedenfalls ist vom 1. Kapitel, von der Genesis an, ein Dokument dafür, dass (die) Menschen ein Bewusstsein ihrer Erlösungsbedürftigkeit und ihrer Erbarmungswürdigkeit haben.
Zur Selbsterlösung aber ist der Mensch nicht fähig, sie endet regelmäßig in gefährlichem Selbstbetrug. Und erst recht gefährlich wird es, wenn sich Staat und Politik für Erlösung zuständig halten, dann führt Heilsideologie in totalitäre Herrschaft und gefährdet Freiheit wie Gerechtigkeit.
Die Einsicht in den untrennbaren Zusammenhang von Freiheit und Gerechtigkeit, von Gerechtigkeit und Freiheit ist das wichtigste Erbe unserer Diktaturerfahrung. Wo dem Aufbau einer gerecht sein wollenden und sollenden Gesellschaft die Freiheit geopfert wird, entsteht ein totalitäres System. In dem auch Gerechtigkeit nicht gelingt. Wo aber Gerechtigkeit der Freiheit geopfert wird, gelingt auch Freiheit nicht. Gerechtigkeit ist die notwendige Bedingung gelingender Demokratie als politischer Lebensform der Freiheit – das ist die Lehre aus den Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts.
Die Demokratie, die politische Lebensform des Menschen und seiner Freiheit – sie ist dem wirklichen Menschen deshalb so angemessen, weil sie, nüchtern betrachtet, ein Regelwerk des Erringens, der Kontrolle, der Begrenzung von politischer Macht, also auch ein Schutz vor deren Missbrauch ist. Und weil sie ein System der Irrtumsfreundlichkeit und der Korrekturfähigkeit ist.
Wir, gerade wir Christen sollten diese Demokratie leben und verteidigen, gerade in Zeiten der Ungeduld, der Enttäuschung, der Bitterkeit, der Wut ihr gegenüber und ja, auch der Feindschaft gegen sie! Ohne uns, ohne all die, die einen Sinn für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität haben, wird’s gefährlich. Demokratisch sein und handeln ist aber mehr, als seine (zu respektierende) Meinung, seine (berechtigten) Interessen zu vertreten (das gehört dazu). Es heißt, den Blick auf die anderen Meinungen und anderen Interessen zu haben, einen Sinn für das Gemeinwohl und die Fähigkeit zum Konsens, zum Kompromiss.
So wenig Staat und Politik für Erlösung zuständig sind (dafür umso mehr für Recht und Gerechtigkeit), so sehr sind wir konkreten Menschen – als Christen zumal – für das Erbarmen, also für Barmherzigkeit zuständig. Papst Franziskus sei Dank (und Kardinal Kasper auch), dass sie diese Tugend, diesen „Grundbegriff des Evangeliums und Schlüssel christlichen Lebens“ wieder in Erinnerung gerufen haben, und Papst Franziskus dies ständig wiederholt.
Solidarisch sein, Nächstenliebe, uneigennützige Hilfe, soziales Verhalten über das Versicherungsprinzip der Gegenseitigkeit, des do ut des hinaus – darum ging und geht es gegenwärtig besonders angesichts der vielen Flüchtlinge.
Könnten wir das miteinander verknüpfen: Empathie mit den Flüchtlingen, menschenfreundliche Aufnahme der aus Krieg und Not zu uns Kommenden, das herzliche Willkommen, das so viele Bürger in Deutschland auf beeindruckende Weise gezeigt haben – mit der nüchternen Einsicht, dass diese so sympathische Willkommenskultur übersetzt werden muss in den mühseligen Alltag von Integration, die nicht ohne viele praktische Probleme, ohne soziale und finanzielle Lasten zu haben sein wird!
Ja, unser Land wird sich ändern, unsere Gesellschaft wird ethnisch, kulturell, religiös pluralistischer und wohl auch anstrengender und konfliktreicher werden.
Es gilt zu begreifen, dass Integration eine doppelte Aufgabe ist: Die zu uns Gekommenen sollen, sofern sie hier bleiben wollen, heimisch werden im fremden Land – und den Einheimischen soll das eigene Land nicht fremd werden.
Heimisch werden heißt, die Chance zur Teilhabe an den öffentlichen Gütern des Landes zu haben, also an Bildung, Arbeit, sozialer Sicherheit, Demokratie und Kultur partizipieren zu können. Es heißt auch, menschliche Sicherheit und Beheimatung zu erfahren, was mehr ist als Politik zu leisten vermag, sondern Aufgabe vor allem der Zivilgesellschaft ist, ihrer Strukturen und Gesellungsformen, von deren Einladungs- oder Abweisungscharakter. Also auch und gerade von unserer alltäglichen Solidarität und Barmherzigkeit!
Zum Schluss: Ein weiteres Element des biblischen Humanismus will ich nicht vergessen: das Naturverhältnis des Menschen, von dem unser Text ja ausdrücklich handelt (wie schon angesprochen).
Der Mensch ist vom Schöpfer beauftragt mit der Verantwortung für die Schöpfung, obwohl und weil er ein Teil von ihr ist. Sein Auftrag lautet: behutsame Herrschaft.
Das will mir sehr aktuell, ja modern vorkommen. Denn inzwischen, tausende Jahre später und nach zwei Jahrhunderten kapitalistischer Ausbeutung der Erde und umfassender Vernutzung der Natur haben wir – hoffentlich endgültig– begriffen, dass die Naturfolgen unseres Verhaltens uns nun selber treffen, dass das Verhalten der Menschheit die Zukunft des Globus verändert und die erdgeschichtliche Zukunft bestimmt. Der Nobelpreisträger Paul Crutzen nennt das Erdzeitalter, in das wir eingetreten sind, „Anthropozän“, von der Menschheit gemachtes Erdzeitalter: Der Mensch ist in seiner künftigen Existenz unentrinnbar an den Fortbestand seiner Umwelt gebunden. Deren Zukunft ist seine Zukunft. Die Zukunft der Umwelt ist die Zukunft des Menschen!
Wir wissen also heute, was als Wissen schon am Anfang der Bibel steht.
Wird unsere Einsicht in den nunmehr geradezu existenziellen Zusammenhang von Menschsein und Schöpfungsordnung der Natur weiterhin so folgenlos bleiben, wie sie es vielfach noch ist, trotz allen ökologischen Bewusstseins, trotz aller Erfolge vernünftiger Umweltpolitik, die ja wahrlich nicht zu übersehen sind? Wir Menschen sind nach wie vor eben nicht nur Erbauer und Kulturvierer der Natur, sondern auch ihre Zerstörer. Dieser Widerspruch zwischen unseren kurzfristigen Interessen als Konsumenten, als Verbraucher von Natur und unseren langfristigen Interessen an der Zukunft der Gattung Mensch, also an den nachfolgenden Generationen und an der Ordnung der Natur – dieser Widerspruch kann und muss von uns selbst in unserem alltäglichen Verhalten aufgelöst werden. Es darf keine Ausrede mehr geben, keine bequeme Schuldzuweisung an die Anderen!
Die Bewahrung der Schöpfung – das ist und bleibt der Handlungs-Auftrag unseres heutigen Bibeltextes schlechthin. Die Bewahrung der Schöpfung ist von Anfang an und bleibt auch heute Teil des Prozesses und der Geschichte der Menschenwerdung. Deren Anfang wird am Beginn der Bibel, in der Schöpfungsgeschichte von Genesis 1 erzählt. Ihr Ende ist offen!
„Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt.“ (Psalm 8)