Unterschrift Wolfgang Thierse

Eröffnung der Anne-Frank-Ausstellung im Bundestag

 
19. Januar 2012

Rede zur Eröffnung der Anne-Frank-Ausstellung im Bundestag

Verehrter Willem Kok, Herr Botschafter,

verehrte Frau Süsskind, verehrte Frau Rosenberg,

verehrter Herr Leopold, lieber Thomas Heppener,

verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie alle herzlich zur Eröffnung der neuen Anne- Frank-Ausstellung im Deutschen Bundestag!

Ganz besonders freue ich mich, dass zwei ehemalige Schulfreunde von Anne Frank unter uns sind: Frau Sanders-van Maarsen und Herr Dr. Gomes de Mesquita. Ich heiße Sie herzlich Willkommen!

Unter uns sind auch 150 junge Gäste aus 18 Ländern, die an einer Tagung der Niederländischen Botschaft teilnehmen – auch Ihnen einen herzlichen Willkommensgruß!

Die Tagung der Botschaft befasst sich mit einer Frage, die ganz sicher auch die Macher der neuen Anne-Frank-Ausstellung beschäftigt hat: Die Frage, wie wir mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu den Verbrechen des Nationalsozialismus historisches Wissen so vermitteln können, dass es bei der jungen Generation tatsächlich auch ankommt und ein Bewusstsein schafft für Verantwortung heute. Anders gefragt: Wie lassen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts Formen des Erinnerns an den Holocaust entwickeln, die zuverlässig in die Zukunft wirken?

Sechseinhalb Jahrzehnte nach Kriegsende stecken wir in einem Generationenwechsel, in der Zeit des Übergangs von der Erinnerung an Erlebtes zur Verständigung über Mitgeteiltes. Unsere Kultur der Erinnerung befindet sich in einem Wandel und auf diesen Wandel muss die politische Bildungsarbeit, müssen Ausstellungsmacher reagieren.

Historische Aufklärung soll und kann politisches Bewusstsein schaffen und das Geschehene in Erinnerung rufen. Dass sie auch zur Trauer um die Toten, zu Empathie mit den Opfern führt, dessen können wir uns nicht mehr so sicher sein. Gerade auch in der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen darf nicht versäumt werden, das Entsetzliche so zu vermitteln, dass es auch mit dem Herzen erfahren und begriffen wird.

Das Schicksal der nach Hitlers Machtergreifung nach Amsterdam emigrierten Familie Frank, das im Tagebuch der Anne Frank so eindringlich dokumentiert ist, macht genau dies möglich. Diese Geschichte lässt niemanden unberührt.

Anne Frank bekam ihr Tagebuch zu ihrem 13. Geburtstag geschenkt, am 12. Juni 1942, vor fast 70 Jahren. Wenige Tage später notierte sie (Zitat): „Es ist für jemanden wie mich ein eigenartiges Gefühl, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich noch nie geschrieben habe, sondern ich denke auch, dass sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchen interessieren wird.“

Anne Frank sollte nicht recht behalten. Ihr Tagebuch ist heute das meistgelesene Buch über den 2. Weltkrieg weltweit. Die kurze, tragische Lebensgeschichte der Anne Frank ist auf exemplarische Weise verschränkt mit dem finstersten Kapitel der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Ich bin froh und dankbar, dass das Anne-Frank-Haus in Amsterdam und das Anne-Frank-Zentrum Berlin in bewährter Kooperation eine neue Wanderausstellung über das Leben von Anne Frank erarbeitet haben, insbesondere für junge Besucherinnen und Besucher. Diese Ausstellung vermittelt historisches Wissen und stellt zugleich Beziehungen her zur Gegenwart. Sie ermöglicht moralische Sensibilität und vermittelt ein Bewusstsein der eigenen Verantwortung. Sie regt an, über das Verhältnis von Opfer und Täter, von Zuschauer und Helfer, von Gruppenzugehörigkeit und Ausgrenzung nachzudenken. Und sie stellt die Frage: Was kann der Einzelne gesellschaftlich tun oder unterlassen?

Erinnerungsarbeit kann helfen, den Blick zu schärfen für heutige Gefährdungen der Demokratie, für die Mechanismen von Stigmatisierung und Ausgrenzung, für die Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungen von Intoleranz und Fremdenhass, von Antisemitismus und Rassenwahn. Dafür ist diese Ausstellung ein gutes Beispiel.

Dass wir unser gesellschaftliches Engagement in all diesen Fragen eher verstärken, denn abbauen müssen, wissen wir nicht erst seit Aufdeckung der rechtsextremistisch motivierten Schandtaten der sog. Zwickauer Terrorzelle. Besser als je zuvor wissen wir aber, dass der Kampf gegen rechtsextremistische Strömungen nicht allein den professionell Zuständigen, den staatlichen Institutionen, überlassen bleiben darf. Er ist Aufgabe aller Demokraten, Aufgabe der Zivilgesellschaft insgesamt.

Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag ist die erste Station der neuen Wanderausstellung „Deine Anne. Ein Mädchen schreibt Geschichte“. Ich danke allen, die diese Ausstellung ermöglicht und erarbeitet haben, stellvertretend Thomas Heppener vom Anne-Frank-Zentrum Berlin und Ronald Leopold vom Anne-Frank-Haus Amsterdam!

Herzlichen Dank!