Buchvorstellung "Der geduldete Klassenfeind" von Peter Pragal am 24. September 2008 in der Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern:
„Elf Jahre in Ost-Berlin (...) – das war für meine Frau und mich die aufregendste und spannendste Etappe unseres bisherigen Lebens, beruflich und privat“, heißt es in Peter Pragals neuem Buch. Er denkt dabei an die 70er und 80er Jahre, in denen er zunächst für die Süddeutsche Zeitung und später für den Stern aus der DDR-Hauptstadt berichtete. Auch das Buch selbst ist aufregend und spannend, aber es ist erheblich mehr: Es ist ein Zeitdokument. Es schildert ein höchst widersprüchliches Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte in einem unaufgeregten, anschaulichen Ton. Es informiert, bewegt und erschüttert zugleich.
Als mich Peter Pragel anrief und fragte, ob ich ihn heute Abend bei seiner Buchpräsentation begleiten könne, habe ich sofort zugesagt: Zum einen war ich gespannt auf seine Erinnerungen an die Ost-Berliner Jahre. Zum anderen fühle ich mich ihm persönlich verbunden. Peter Pragal, Jahrgang 1939, und ich – wir haben mindestens eines gemeinsam: Und das ist unsere Herkunft. Wir sind beide in Breslau geboren und haben sehr früh mit unseren Familien die Heimat verlassen müssen – eine Erfahrung, die prägt. Vor ein paar Jahren waren wir zusammen auf Spurensuche in Breslau; Peter Pragal hat darüber einen wunderbaren Text geschrieben.
Die Familie Pragal landete 1946, nach ihrer Zwangsaussiedlung, in einem Auffanglager in Niedersachsen. Von dort wurden die Vertriebenen auf Dörfer in der britischen Besatzungszone verteilt. Hätte der Güterzug, in dem seine Familie transportiert wurde, in Halle oder Magdeburg geendet, wäre er später „DDR-Bürger geworden“. Das Schicksal wollte es anders: Peter Pragal wuchs im westfälischen Sauerland und im Siegerland auf.
In München studierte er Zeitungswissenschaft, Politikwissenschaft, Geschichte, absolvierte die Deutsche Journalistenschule und stieg dann 1965 gleich bei einem großen überregionalen Blatt ein: bei der Süddeutschen Zeitung – zunächst allerdings in der Bayern-Redaktion (was ich mir nicht wirklich vorstellen kann), dann im Ressort Innenpolitik.
Dass Peter Pragal 1974 für seine Redaktion nach Ost-Berlin ging, gehen konnte!, war damals noch alles andere als selbstverständlich. Erst Ende 1972 hatte sich die DDR im Zuge des Grundlagenver¬trages verpflichtet, westdeutsche Journalisten als ständige Korres¬pondenten ins Land zu lassen – und mit diesem Zugeständnis haderte die SED-Führung bis zuletzt.
Peter Pragal ließ sich auf das Experiment DDR mit Haut und Haaren ein: Mit seiner Ehefrau und den beiden Kindern gab er seinen Hauptwohnsitz in der Bundesrepublik auf und verlegte ihn nach Ost-Berlin, in einen neu errichteten Plattenbau in Lichtenberg, Ho-Chi-Minh-Straße 2. Das unterschied ihn von vielen seiner in Ost-Berlin akkreditierten Kollegen, die ihren Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt in West-Berlin behielten.
Den Wechsel aus dem wohlgeordneten Leben in München in die schroffe Welt des realen Sozialismus beschreibt Pragal als „Kulturschock“: (Zitat) „In Ost-Berlin waren wir Fremde. Keine Freunde, keine Bekannten, die man um Rat und Unterstützung fragen könnte. Aber wie im Ausland fühlten wir uns auch nicht. Wir waren nicht in Warschau oder Moskau, sondern in einer deutschen Stadt. Wir fühlten uns wie Pioniere.“
Pragals Entschiedenheit hatte natürlich Konsequenzen für den Familienalltag: Die Kinder besuchten eine Kita in Friedrichshain und als Sohn Markus 1977 schulpflichtig wurde, meldeten ihn seine Eltern in einer Lichtenberger Schule an. Dieser Schritt stürzte die Ost-Berliner Behörden in heftige Verwirrung, ja Ratlosigkeit: Sie waren sich nicht sicher, ob Pragal damit die Überlegenheit des sozialistischen Bildungssystems anerkenne oder ob er nur seinen Sohn vorschicke, um besser recherchieren zu können! Den prag¬matischen Aspekt übersahen sie: Die Pragals wollten schlicht vermeiden, dass ihr Sohn in zwei Welten aufwachse, mit Schulkameraden, die er in seiner Freizeit nicht sehen kann.
Die Schilderung des ostdeutschen Alltags mit all seinen Widrig¬keiten, Verrücktheiten, Skurrilitäten aus der Perspektive eines genau beobachtenden westdeutschen Korrespondenten machen Pragals Buch so lebendig, so unverwechselbar. Er berichtet von den vielfältigen Aufgaben, die ihm und seiner Frau im allgegenwärtigen System der Mangelwirtschaft zuwuchsen. Er schildert Begeg-nungen mit den ostdeutschen Nachbarn, Lehrern, Künstlern, Dissidenten, Umweltschützern, Polizisten, Politikern und erzählt, was ihn an der DDR-typischen Witzkultur und an den Kabaretts in Leipzig, Berlin, Dresden so faszinierte.
Doch nostalgische Stimmung, das sei auch gesagt, kommt beim Lesen nicht auf, ganz im Gegenteil. Ein prägender Bestandteil des Alltags in der DDR ist das klebrige Misstrauen, das Pragal von staatlicher Seite unverhohlen entgegengebracht wird. Die SED-Oberen und die Staatssicherheit betrachteten die Westkorrespon¬denten als „Speerspitze des Imperialismus“, als gefährliche „Agenten des Klassenfeindes“ und behandelten sie entsprechend. Ihre Arbeit wurde von Beginn an stark reglementiert, behindert, überwacht. Sie selbst und ihre Familien wurden von zahlreichen hauptamtlichen und informellen Mitarbeitern des Mielke-Apparats bespitzelt, ihre Wohn- und Arbeitsräume abgehört.
Wie andere Kollegen auch, wurde Pragal in Ost-Berlin immer wieder von DDR-Bürgern um Vermittlung und Unterstützung in schwierigen, mitunter ausweglosen Lebenslagen gebeten. Pragal beschreibt exemplarisch einige dieser Fälle, die mitunter glücklich gelöst werden konnten, häufig aber einen tragischen Ausgang hatten. Denn auch die Hilfesuchenden wurden von der Stasi aufwendig observiert. Nicht wenige von ihnen wurden festgenommen, gedemütigt, verhört, als Verräter und Staatsfeinde zu Zuchthausstrafen verurteilt. Pragal hat jetzt anhand seiner umfänglichen Stasiakten sowie in zahllosen Gesprächen mit Beteiligten und Betroffenen einige dieser Fälle rekonstruiert. Sein Buch gewährt frappierende Einblicke in das Innenleben der Diktatur und belegt das verächtliche Selbstverständnis ihrer Protagonisten.
Nach dem Zusammenbruch der DDR macht sich Pragal daran, mit einigen der Stasi-Spitzel, die auf ihn persönlich angesetzt waren, ins Gespräch zu kommen, ihre Motive und ihre Seelenlage zu erkunden, ihr Verhalten irgendwie zu verstehen. Die DDR in all ihren Auswüchsen, so die Botschaft, lässt ihn auch lange nach ihrem Ableben nicht wirklich in Ruhe.
An verschiedenen Stellen seines Buches diskutiert Peter Pragal die Frage, was die Westkorrespondenten – neben der bundesdeutschen Politik – in den 70er und 80er Jahren zur Annäherung von Ost und West und schließlich zum Niedergang der DDR beigetragen haben. Und das ist in der Tat erheblich: Sie haben über die Missstände in den verschiedensten Bereichen des DDR-Alltags aufgeklärt und die Differenzen zwischen offizieller Propaganda und realem Sozialismus deutlich gemacht. Sie haben – rückgekoppelt über das West-fernsehen und die westlichen Radioanstalten – die Legitimität des politischen Systems untergraben und auf die Meinungsbildung in der DDR nachhaltig eingewirkt. Und sie haben, auch das ist nicht unwichtig, mit ihrer Anwesenheit, mit ihren Nachfragen und Berichten die SED und ihre Sicherheitsapparate unter Druck gesetzt, ihnen immer wieder den entlarvenden Spiegel vorgehalten.
Es war ein Interview von Peter Pragal, in dem Politbüromitglied Kurt Hager mit Blick auf Perestroika und Glasnost erklärte: (Zitat) „Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, ebenfalls neu zu tapezieren?“ Dieses Interview, diese Formulierung erschien im April 1987 (!) und machte weltweit Furore. Sie wurde als endgültige Absage der SED an die Reformpolitik der sowjetischen Schutzmacht verstanden – und blieb in kritischen Kreisen innerhalb der DDR nicht ohne Wirkung.
Mitte der 90er Jahre sprach Pragal, nunmehr Redaktionsmitglied der Berliner Zeitung, nochmals mit Kurt Hager. Der verbitterte Rentner gestand, dass der Tapetenwechsel-Vergleich sein „einziger originaler Beitrag zu dem Interview“ gewesen sei, die anderen Antworten hätte die Pressestelle des DDR-Außenministeriums zusammengestellt. Auch das wirft ein bezeichnendes Licht auf die SED-Informationspolitik.
Höhepunkt im Journalistenleben Peter Pragals waren natürlich die Monate des friedlichen Umbruchs in der DDR. Am 9. November 1989 nahm er an der historischen Pressekonferenz mit Politbüro¬mitglied Schabowski teil, auf der dieser verkündete, Privatreisen über die Grenze seien künftig auch „ohne Vorliegen von Voraussetzungen“ möglich – und zwar „sofort, unverzüglich“. Den Abend des 9. November verbrachte Pragal am Grenzübergang Bornholmer Straße. Er wurde Augenzeuge, wie die DDR-Bürger die Grenzöffnung erzwangen. Er telefonierte vom Münzfern sprecher aus mit der Stern-Redaktion in Hamburg forderte dringend Fotografen an. Handys gab es damals noch nicht.
Meine Damen und Herren,
Peter Pragals Buch ist voller Episoden und Erinnerungen an eine untergegangene Welt. Es ist im besten Sinne des Wortes ein Geschichtsbuch – jenseits aller banalisierenden und verklärenden Tendenzen. Die DDR-Geschichte, das wird hier deutlich, ist ebenso spannend, widersprüchlich, aufregend wie das Leben selbst. Es ist die Geschichte großer Utopien und Illusionen, ideologischer Bevormundung, staatlicher Repressionen und organisierten Verrats. Es ist aber auch die Geschichte widerständigen Verhaltens und emanzipatorischer Bestrebungen, beharrlicher Zivilcourage und Solidarität. Denn das gab es wirklich – das richtige Leben im falschen System.
Peter Pragal berichtet davon authentisch, glaubwürdig und mit großer persönlicher Anteilnahme. Und darum empfehle ich sein Buch Ihnen und ganz besonders auch jüngeren Leserinnen und Lesern zur aufmerksamen Lektüre.
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit!