Unterschrift Wolfgang Thierse

Bibelarbeit Katholikentag 2006

 
27. Mai 2006

Bibelarbeit zum 96. Deutschen Katholikentag in Saarbrücken

(- Mt 20, 1-16)

Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg


Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht - so lautet das Motto dieses 96. Deutschen Katholikentages. Deus caritas est - Gott ist die Liebe - so beginnt die erste Enzyklika von Papst Benedikt XVI, gegeben am 1. Weihnachtsfeiertag 2005. Gerechtigkeit oder Liebe - ein Widerspruch? Darf ich es gleich zu Beginn unseres gemeinsamen Nachdenkens auf den Punkt bringen - es gibt Beobachter der theologischen, der kirchlichen, der gesellschaftlichen Szene, die das so sehen. Ein Widerspruch der Themen, ein Widerspruch der Aussagen. Gerechtigkeit oder Liebe, Katholikentag oder Vatican?

Was also ist das Entscheidende im Leben eines Christenmenschen, einer Katholikin, eines Katholiken? Nehmen wir den Bezug unseres Denkens und Handelns beim Menschen, zuerst also bei dem Mühen um Gerechtigkeit für die Menschen? Oder wollen wir uns zuallererst in religiöser Übung Gott zuwenden, ihm im Werk der Liebe folgen, und dann den Blick auf den Menschen und seine Sehnsucht nach Gerechtigkeit richten? Zuerst Gott und das Wirken der Liebe, dann das Ringen um Gerechtigkeit?.

Mensch oder Gott, Gerechtigkeit oder Liebe - das ist eine Frage, die tiefer führt, als wir zunächst annehmen. Dies gilt aber auch in der Politik, in der ich mich engagiere. Was bestimmt unser Denken und Handeln als politisch verantwortliche Menschen. Sehen wir mit einem menschenfreundlichen, liebenden Auge auf unser Sozialwesen, auf ein gerechtes Zusammenleben der Völker? Fühlen wir uns verpflichtet, jeden Menschen und jedes Volk zu seinem Recht kommen zu lassen, in dem wir einen gerechten Ausgleich der Güter und Vermögen dieser Erde schaffen, dass alle menschenwürdig leben können?

Oder geht es um eine formale Gerechtigkeit, eine Gerechtigkeit, die zuallererst das Eigentum an materiellem und geistigem Besitzt schützt? Solche Gerechtigkeit sei die Basis für Zukunft stiftende Freiheit des eigenverantwortlichen Denkens und Handelns, des Planens und Gestaltens in Wissenschaft, Kultur, aber auch in Wirtschaft und Politik. "Jedem das Seine, und mir das Meine" - so lautet verkürzt der Wahlspruch dieser Haltung. "Mein Haus, Mein Konto, Meine Karriere", so formuliert dann die Werbung diese liberalistische Form von Leistungsgerechtigkeit.

Der Katholikentag hat uns für heute morgen das Nachdenken über eine biblische Geschichte aufgegeben, in der es um das Himmelreich und Gottes und der Menschen Gerechtigkeit geht. Diese Geschichte hat Jesus erzählt, als seine Jüngerinnen und Jünger fragten, wer den nun in das Reich der Himmel kommt, und wer dort dann etwas zu gelten hat. Eine sehr menschliche Form der Frage nach Gerechtigkeit vor Gott, nach Mensch und Gott, nach Gerechtigkeit und Liebe.

Hören wir also diese Geschichte, die Jesus erzählt. Ich lese die Einheitsübersetzung der deutschen Bistümer. Den Bibeltext wollen wir dann in uns nachklingen lassen durch Musik.


Text Matthäus 20, 1-16
1 Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der früh am Morgen sein Haus verließ, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben.
2 Er einigte sich mit den Arbeitern auf einen Denar für den Tag und schickte sie in seinen Weinberg.
3 Um die dritte Stunde ging er wieder auf den Markt und sah andere dastehen, die keine Arbeit hatten.
4 Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Ich werde euch geben, was recht ist.
5 Und sie gingen. Um die sechste und um die neunte Stunde ging der Gutsherr wieder auf den Markt und machte es ebenso.
6 Als er um die elfte Stunde noch einmal hinging, traf er wieder einige, die dort herumstanden. Er sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?
7 Sie antworteten: Niemand hat uns angeworben. Da sagte er zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg!
8 Als es nun Abend geworden war, sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter, und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den letzten, bis hin zu den ersten.
9 Da kamen die Männer, die er um die elfte Stunde angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar.
10 Als dann die ersten an der Reihe waren, glaubten sie, mehr zu bekommen. Aber auch sie erhielten nur einen Denar.
11 Da begannen sie, über den Gutsherrn zu murren,
12 und sagten: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt; wir aber haben den ganzen Tag über die Last der Arbeit und die Hitze ertragen.
13 Da erwiderte er einem von ihnen: Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart?
14 Nimm dein Geld und geh! Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir.
15 Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich (zu anderen) gütig bin?
16 So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.


Wir hörten eine Geschichte, in der Menschen arbeiten, entscheiden, etwas leisten, reden, bestimmen. Es geht um alltägliche Dinge, um Arbeitsbeziehungen, um Lohnabrechnung, um einen Unternehmer, um seinen Verwalter und Manager, um Arbeiter, um Landwirtschaft. Der Ablauf eines Arbeitstages wird geschildert, vom Morgen bis hin zum Abend. Diese Geschichte steht so in der Bibel. Matthäus berichtet, dass Jesus der Autor und Erzähler dieser Geschichte war. Das Faszinierende ist ja schon, dass wir keinen Grund haben, an dieser historischen Erinnerung zu zweifeln. Zwar ist keine einzige Zeile der Evangelien von Jesus selbst geschrieben, wir haben kein Blatt Papier, das von Jesu eigener Hand beschriftet ist. Aber wir haben - eingebettet in die nachträglich niedergeschriebenen Berichte der Evangelisten - diese Geschichten, die Jesus selbst erzählt hat. Urgestein der Erinnerung an ihn, authentisches Zeugnis seines Redens und Denkens.

Die Geschichte vom Weinberg handelt offenbar nur von Menschen. Das Wort "Gott" kommt nicht vor. Bleiben wir also zunächst bei dieser Geschichte, wie sie Jesus entwickelt, bleiben wir zuerst bei den Menschen, die Jesus auftreten, handeln und reden und entscheiden lässt.

Da ist zuerst der Besitzer eines Weinbergs, eines anscheinend größeren Weingutes. Es ist eine Zeit, in der umfangreiche und wichtige Arbeiten im Weingut anfallen. Im Frühjahr, wenn die Reben beschnitten werden sollen, wenn der Boden gelockert werden muss, wenn Wege und Mauern ausgebessert werden. Oder im Herbst während der Ernte, wo jede verfügbare Hand gebraucht wird, um die Ernte rasch einzubringen, damit nichts verdirbt, wenn die Beeren noch voll im Saft stehen und den besten Ertrag bringen. Der Besitzer des Weingutes selbst verlässt früh am Morgen seine Villa und begibt sich auf den Marktplatz, wo die Arbeitssuchenden sich bereits versammelt haben, wie es damals Sitte war. Es sind Tagelöhner - Kleinbauern, die vom Ertrag der eigenen Landwirtschaft nicht leben können und sich tageweise zusätzliche Arbeit suchen müssen. Als Arbeitslohn einigt man sich auf einen Denar, den damals üblichen Lohn für die Arbeit eines Tages. Das war nicht üppig, aber in etwa angemessen. Ein Tagelöhner musste 200 Tage im Jahr zum Lohn dieses einen Denars arbeiten, um seine Familie durchzubringen. Problem war damals für die Tagelöhner die Konkurrenz durch die leibeigenen Sklaven. Aus der hellenistisch-römischen Umwelt haben immer mehr Gutsbesitzer das Recht für sich in Anspruch genommen, solche leibeigenen Sklaven zu halten, was im Judentum damals noch unüblich und eigentlich unzulässig war.


Der Gutsbesitzer also heuert bewusst Tagelöhner an, früh am Morgen um 6 Uhr, der Tageslohn ein Denar. Zur dritten Stunde des Tages - um 9h unserer Tageszeit - macht er sich wieder auf den Weg zum Marktplatz. Warum? Hat er bemerkt, dass die bislang verpflichteten Arbeiter das notwendige Arbeitspensum nicht leisten können? Hat er zuerst zu wenige Arbeiter verpflichtet, bricht ihm sein Arbeitsplan zusammen? Muss er am Abend fertig werden, koste es, was es wolle? Nichts davon in der Geschichte Jesu. Es heißt lapidar: "Um die dritte Stunde ging er wieder auf den Markt und sah andere dastehen, die keine Arbeit hatten. Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Ich werde euch geben, was recht ist."
Die Zuhörenden sind gespannt: wie ergeht es den Arbeitern in diesem großen Weinberg, was arbeiten sie, wie werden sie behandelt, wie teilt sich der Besitzer als Mensch seinen Arbeitern mit? Wieder nichts von alledem, keine romanhafte Ausschmückung des Berichtes, keine Befriedigung unseres literarischen Interesses. Der Gutsherr kehrt auf den Markplatz zurück, den wir in Gedanken bereits lange verlassen hatten. Um die sechste und neunte Stunde - also um 12h und um 15h - verdingt er erneut Tagelöhner. Und dann, um die Geschichte auf die Spitze zu treiben, nochmals kurz vor Arbeitsende. "Als er um die elfte Stunde noch einmal hinging, traf er wieder einige, die dort herumstanden. Er sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum? Sie antworteten: Niemand hat uns angeworben. Da sagte er zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg!" Der Blick ist auf die Arbeiter gerichtet. Auf die Menschen, die ohne Beschäftigung untätig herumstehen müssen, die keine Chance haben, heute noch das Notwendige zu verdienen. Ihre Untätigkeit ist es, die den Gutsherren motiviert. Er spricht sie an und verpflichtet sie - auch noch spätnachmittags um 18.00h, als die Arbeit eines Tages schon eigentlich vorbei ist.
Dann am Abend die Lohnzahlung. Der Gutsherr hält sich an die damals geltenden jüdischen Verhaltensregeln, am Abend des Arbeitstages den Tagelöhnern der Lohn in voller Höhe auszubezahlen. Jesus strafft nun seine Erzählung, wie in einem Film werden nur Ausschnitte der Handlung gezeigt, nur wenige Worte gewechselt. Der Besitzer tritt in den Hintergrund, und lässt seinen Verwalter agieren. Die Arbeiter werden gerufen, der Lohn soll ausgezahlt werden. "Beginne bei den letzten, bis hin zu den ersten", so instruiert der Besitzer seinen Verwalter.
Jetzt der Spot auf die Arbeiter: es treten vor die, die in der elften Stunde begonnen hatten, jeder bekommt einen Denar. Und jetzt der Blick auf die, die in aller Früh gekommen waren. Man sieht, wie Vorfreude und Begehrlichkeit auf ihre Gesichter geschrieben ist: die Kollegen aus der elften Stunde bekamen einen Denar, wie viel mehr werden wir jetzt bekommen? Jesus kennt Menschen zutiefst, er weiß um die natürlichste aller Regungen, er weiß um Berechnen und Rechten untereinander. Aber auch diese Ersten erhalten einen Denar.
Und damit genau kippt die Geschichte: das, was bislang so friedlich und verträglich verlaufen war, wird zu einem Konflikt. Die Arbeiter aus der Frühschicht beginnen zu murren und zu revoltieren. Sie hatten den ganzen Tag schwer gearbeitet, in der Hitze des Mittags ausgehalten, die langen Stunden das Nachmittags weitergeschuftet, als sich die Minuten quälend langsam dahin zogen, als Rücken und Hände zu schmerzen begannen. Sollten sie nicht eine besondere Aufmerksamkeit erfahren, haben sie nicht einen Extra-Lohn verdient? Wäre es nicht nur zu gerecht, wenn genau Maß genommen würde: die letzten einen Denar für eine Stunde, die anderen für zwölf Stunden wie viele Denare? Der Vorwurf der Frühschicht: "Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt!" Gleichstellung, Gleichmacherei, Einebnen der klaren Unterschiede, Einheitslohn als eindeutiges Unrecht.
Der Gutsbesitzer tritt nun wieder in den Vordergrund. Unangefochten und freundlich spricht er einen von den Murrenden an: Unrecht geschieht nicht, denn es wurde ein Denar für einen Tag Arbeit vereinbart. Das Vereinbarte wird gezahlt. Und die Begründung? Sie liegt alleine im Gutsbesitzer selbst. "Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?" Natürlich dürfte er mehr geben, für mehr Arbeit und Leistung. Mehr dem, der mehr geleistet hat. Er aber gibt - relativ - mehr dem, der weniger leistete, der weniger tun konnte, der nur am Abend eine Stunde die Chance zur Arbeit hatte. Ein Ausgleich der damals wie heute ungewohnten Art, Gleichstellung in einer unüblichen, geradezu provozierenden Weise. Der Gutsbesitzer lässt hier nicht mit sich reden, er bleibt bei seiner Entscheidung. Er wird jetzt sehr bestimmt und deutlich: "Nimm dein Geld und geh! Oder bist du neidisch, weil ich zu anderen gütig bin?" Die Einheitsübersetzung, aus der ich zitierte, formuliert an dieser Stelle etwas zu brav. "Blickst du scheel, weil ich so gütig bin", heißt es plastischer bei Luther. Im Urtext wird Jesus noch deutlicher: "Wirfst du ein böses Auge, weil ich so gütig bin? Urteilst du, verurteilst du, ja verdammst du mich?"

Liebe Zuhörende, geben wir nun nochmals dieser Erzählung Jesu als ganzer Raum in uns. Bevor ich für meinen Teil versuche, die Geschichte Jesu und die Fragen unserer Gegenwart zusammenzubringen, soll die Musik den Text Jesu in uns nachklingen lassen.


Gerechtigkeit oder Liebe, Mensch oder Gott - was muss im Zentrum stehen? Was muss christlichen Glauben und christliches Leben als erstes entscheidend bestimmen? So hatte ich zu Beginn gefragt. Wie geht diese Geschichte Jesu mit dieser Frage um? Jesus erzählt eine Begebenheit unter Menschen, die ganz alltäglich erscheint. Sie ist an sich nicht unmöglich, sie hat nichts Mirakulöses, Wunderhaftes an sich, nichts, was durch Zauberhand erst hervorgeholt wird. Diese Geschichte beginnt so friedlich, so menschenfreundlich, dann wird sie menschlich, allzu menschlich: Berechnen, Aufrechnen und Rechten, Murren schlägt uns da mit einem Mal entgegen. Völlig normal im Umgang von Menschen, völlig normal im Arbeitsleben. Das ist nicht schlecht zu reden. Die Arbeiter der ersten Stunde - haben sie nicht einen echten Grund, beim Gutsbesitzer nachzufragen, ob sie nicht ungerecht behandelt werden, wenn alle den einen Denar bekommen? Ist es nicht das Recht der Ersten, eine angemessenere Entlohnung auszuhandeln, eine Entlohnung, die ihren überdurchschnittlichen Einsatz berücksichtigt, ihre Mühe über die langen Stunden hinweg?
Aber gerade hier nun gelangt ein Zug in die Geschichte, der uns aufhorchen lässt. In ähnlichen Geschichten, wie sie die jüdischen Rabbinen vor und während der Zeit Jesu erzählt haben, bereitet sich das vor. Danach gibt es bei Gott einen Lohn, einen endgültigen Lohn für alle Mühen, der nicht unterschiedlich, sondern gleich ist. Es muss eine höhere Gerechtigkeit geben angesichts dessen, was Menschen leisten und bewirken können. Und diese Gerechtigkeit kann nicht von den Menschen selbst herrühren, sondern eben nur von Gott. So die Rabbinen. Jesus greift diese Gedanken auf und erzählt diese Geschichte weiter. Eine Geschichte von Menschen, aber eben darin eine Geschichte von Gott. Jesus beginnt ja seine Geschichte so: Denn mit dem Himmelreich ist es so wie mit einem Gutsbesitzer….
Die Geschichten der Menschen und die Geschichte Gottes überkreuzen sich, sie werden verwechselbar, so sehr ähnlich. Das erscheint mir als das erste, das sprachliche Wunder der Gleichnisse Jesu: anscheinend konnte nur Jesus so erzählen - merkwürdigerweise hat kein Autor seitdem Geschichten so präzise, subtil und überzeugend von Gott und vom Menschen entwickelt und dargestellt. In einer ganz alltäglichen Erzählung erhebt sich mit einem Mal aus der Mitte der Geschichte von uns Menschen die Geschichte Gottes: der Gutsbesitzer teilt jedem den einen Denar aus, nicht mehr und nicht weniger. Es ist der ausgehandelte Lohn für die Ersten der Frühschicht, es ist der Lohn für einen Tag Arbeit aber auch für die, die nur eine Stunde tätig waren. Es ist Gerechtigkeit und Liebe, es ist Mensch und Gott in einer gemeinsamen Geschichte. Das ist für mich das zweite Wunder der Gleichnisse: es gibt kein entweder oder, es gibt kein weltliches Leben, das zu unterscheiden wäre vom geistlichen, göttlichen Leben. Gott und Mensch gehören zusammen in den Geschichten Jesu, gehören zusammen in der Geschichte Jesu selbst. Jesus steht damit unmerklich im Mittelpunkt dieser Geschichten, dieser Gleichnisse, weil sie nur dann ihre tiefe Kraft entfalten, wenn er als Erzähler die Folie für ihr Verstehen bilden darf.
Sehen Sie es mir nach, liebe Zuhörende, wenn ich Ihnen jetzt nicht die hermeneutischen Theorien von Analogie und Differenz, von Semiotik und Semantik der Gleichnisse darlege. Ich war in meinem früheren Leben von Beruf Kultur- und Literaturwissenschaftler, nicht Theologe, wie manche meinen. Aber mich interessieren vor allem die einfachen und klaren Aussagen Jesu, wie sie die Bibel berichtet. Lassen Sie mich drei solcher Aussagen nennen, die mir im Nachdenken über das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg deutlich geworden sind.
Die erste Aussage also: Gott und Mensch gehören für Jesus unmittelbar zusammen, Gerechtigkeit und Liebe sind für den Glauben nur gemeinsam zu haben. Das heißt ganz praktisch, dass kein Ringen um Gerechtigkeit, kein noch so erfolgreiches gesellschaftliches und soziales Handeln einen besonderen spirituellen Wert bei Gott bekommt. Das heißt aber auch, dass kein religiöses Ringen, kein geistliches Tun und Wirken und kein spirituelles Vermögen höher steht als das schlichte Leben im Glauben dessen, der vielleicht nur eine Stunde am Tag oder weniger Zeit hat, sich zu versenken und Stille zu üben. Alle bekommen Lohn, ausreichend, für den einen angesichts seiner Leistung kärglich erscheinend, aber es wird keiner und keine ausgeschlossen. Es mag ja bis in die letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts gedauert haben, dass sich an dieser Frage die Konfessionen gespalten haben, dass für die Protestanten die Frage der Rechtfertigung alleine aus Glauben ohne Werke die Grenzen ihrer Kirche markierte, und dass die Katholiken dagegen die Werke der Liebe betonten. Intensive theologische Gespräche, an denen ja auch unser jetziger Papst beteiligt war, haben gezeigt, dass Gerechtigkeit und Liebe, dass Gott und Mensch, Glaube an Gott und Werk der menschlichen Liebe unmittelbar zusammengehören. Jetzt ist es an der Zeit, die Kirchenspaltungen an dieser Stelle aufzuheben und anzuerkennen, dass wir alle allein vom Wort Jesu her, von seinem Zusammensprechen von Gott und Mensch zu einer Gemeinschaft zusammengeführt werden. Wir alle leben von dem einen Denar des Winzers. Murren über mehr oder weniger, über höherrangig oder unbedeutend in der Kirche, vor allem aber zwischen den Kirchen richtet sich selbst.
Eine schlichte Wahrheit, liebe Zuhörende, aber was wäre das für ein Schub an Glaubwürdigkeit, wenn die Kirchen Gerechtigkeit und Liebe gerade auch untereinander walten lassen würden? Wenn ehrliche Anerkennung wachsen könnte, die das Trennende nicht nivelliert, aber für zweitrangig erklärt gegenüber dem Verbindenden, was uns gemeinsam und gleich von Gott her zukommt. Ich habe die Hoffnung, dass gerade auch Frére Roger Schütz, der so sehr das Verbindende der Konfessionen lebte, von unserer Kirche selig gesprochen wird. Wenn schon Santo subito - dann auch für Frére Roger!
Gerechtigkeit und Liebe gehören von Gott her unmittelbar zusammen, sie sollen deswegen von den Kirchen und Christen zuallererst gegenseitig und wechselseitig aufeinander bezogen werden - das war die erste Aussage, die sich mir aus der Betrachtung des Gleichnisses Jesu aufdrängte. Wie viel glaubwürdiger würden die Kirchen, wenn das Murren übereinander aufhörte, wenn wir uns herzlich annehmen und anerkennen als gleicherweise beschenkt von Gott.
Eine zweite einfache Aussage schließt sich der ersten an: Gerechtigkeit und Liebe gehören zusammen und richten sich ebenso unmittelbar an alle Menschen in der Kirche selbst. Ich finde es sehr erhellend, wenn die Enzyklika Deus es Caritas diese Frage konkret aufgreift und gleich in ihren ersten Kapiteln klärt, dass Gerechtigkeit und Liebe nie abstrakt zu haben sind. Sie existieren für uns Menschen immer konkret im Miteinander von Mann und Frau in Gesellschaft und Religion.

Das gilt es gerade auch in unserer Kirche zu leben. Gerechtigkeit und Liebe darf und soll sich allen Menschen in der Kirche unterschiedslos zuwenden - Männern wie Frauen. Es gibt keine Unterschiede vor Gott, jedes Leben und Wirken vor ihm und mit ihm wird von Gott beschenkt. Wie glaubwürdig wäre es, wenn wir im konkreten Leben der Kirche dies zur Anerkennung bringen und sichtbar werden lassen! Frauen und Männer dürfen sich gegenseitig annehmen im Leben der Religion, der Kirche. Liebe, die Gerechtigkeit übt, kann gerade auch in ihrer spirituellsten Form als Caritas keine Unterschiede des Geschlechts zulassen, sie muss Männern wie Frauen die Chance geben, gemeinsam im Weinberg des Herrn zu wirken und gleichen Lohn zu empfangen. Ein schlichter Arbeiter im Weinberg des Herrn, das sind wir alle - das ist unser Papst, das sind unsere Bischöfe und Priester. Aber das sind auch wir Laien, wir Männer und Frauen in der Kirche. Vom Herrn des Weinbergs bekommen wir alle den einen Denar.
Schaffen wir es, Ehre zu geben, wem Ehre gebührt - dem Bischof von Rom und den übrigen Bischöfen und Priestern - aber dennoch Liebe und Annahme wachsen zu lassen für alle Menschen in der Kirche? Und ebenso zwischen den Kirchen? Wenn aber alles beim Alten bleibt und nicht der vorsichtige Versuch gewagt wird, wenigstens schrittweise und ohne verletzende Brüche Gerechtigkeit und Liebe auch in der Kirche leben zu lassen? "Dann werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein". So endet das Gleichnis Jesu, und es endet so im konkreten Blick auf die Kirche. Es ist gerade auch unter katholischen Bibelauslegern einhellige Meinung, dass dieser letzte Satz unseres Gleichnisses vom Evangelisten Matthäus hinzugefügt wurde, auf Grund seiner Erfahrung mit der Kirche. Da ging es schon bald um den Rangstreit der Jünger, um Zurückdrängen der einen, um Macht der anderen. Männer und Frauen waren rasch sehr ungleich in der Kirche. Das Gleichnis wurde von Matthäus deswegen eingefügt in die Mahnungen Jesu kurz vor seinem Leiden - damit die Kirche sein Wort und sein Vorbild nicht vergaß, sein lebendiges Gleichnis für die Einheit aus Liebe und Gerechtigkeit.

Lassen Sie mich nun zu einer dritten und letzten Aussage kommen, die sich mir aus der Betrachtung dieses Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg aufdrängt. Schließlich bin ich Politiker und gehöre einer politischen Partei an, für die Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich Kern ihrer programmatischen Identität sind.
Im Unterschied zu meinen beiden ersten Gedanken, die die vom Gleichnis Jesu geforderte Verbindung von Liebe und Gerechtigkeit für die Gemeinschaft der Kirchen untereinander und für die Gemeinschaft der Menschen miteinander in der Kirche selbst betrachteten, erscheinen die politischen Konsequenzen aus unserem Gleichnis weniger klar, sondern durchaus widersprüchlich. Nicht, weil ich mich auf diesem Forum des Katholikentages davor drücken will, mich politisch festzulegen und danach später beurteilt zu werden. Sondern weil es unehrlich und falsch wäre, aus Worten und Gleichnissen Jesu einfache politische Antworten zu destillieren. Das ist ja eine der wesentlichen Sorgen, die Papst Benedikt in seiner Enzyklika auch im Blick auf Kirche und Gesellschaft umtreibt: dass das Streben nach Gerechtigkeit sich zu einer Ideologie wandelt, die die spirituell begründete Caritas gegenüber dem konkreten Nächsten verlässt und meint, wieder einmal die Welt als Ganze totalitär retten zu müssen. Der Umsetzung der Caritas im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Feld müsse sich die Kirche versagen, dies sei, so Benedikt XVI., ausdrücklich dem demokratischen Diskurs, dem Widerstreit der Meinungen überlassen.

Gibt unser Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg aber tatsächlich ein Argument her für eine so deutlich unterscheidende Trennung von göttlicher Gerechtigkeit und irdischer, menschlicher Gerechtigkeit, von Caritas und Solidarität? Sollten wir den Text etwa ganz strikt im Sinne der Zwei-Reiche-Lehre interpretieren? "Das Himmelreich ist gleich einem Hausvater, der früh am Morgen ausging…", so beginnt das Gleichnis. Sollten wir also in Gedanken fortsetzen: "… auf Erden ist es aber ganz anders …"? Kann die Gerechtigkeit Gottes also überhaupt unsere menschliche Gerechtigkeit sein? Oder doch wenigstens ein Vorbild für sie? Können wir Menschen so sein wie der Hausvater im Gleichnis?

Dem widerspricht all unsere Lebenserfahrung, unser politischer Menschenverstand. Schließlich ist Leistungsgerechtigkeit das selbstverständliche und nach wie vor gültige Zentrum unser (deutschen, europäischen) Vorstellung von Gerechtigkeit: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort - das ist die volkstümliche Fassung des elementarsten Gerechtigkeitsprinzips, des Prinzips des proportionalen Vergeltens. Und tatsächlich ist unser Gleichnis ja die Antwort Jesu auf die besorgte Frage des Petrus: "Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir machgefolgt; was werden wir dafür bekommen, was wird unser Lohn, unser Entgelt sein?" So fragt Petrus ganz irdisch, ganz menschlich. So zu fragen, entspricht auch unserem Gerechtigkeitsbedürfnis.

Die Antwort Jesu aber - sie passt nicht, entspricht nicht unserem Gerechtigkeitsbedürfnis; sie relativiert, sie übersteigt unsere Vorstellungen von Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit. Dass jeder Arbeiter das Gleiche bekommt, obwohl er doch ungleich viel (und gewiss auch ungleich gut) gearbeitet hat, Ungleiches geleistet hat - das empfinden wir als zutiefst ungerecht. So also ist das Himmelreich, das mag ja sein - aber auf Erden geht es anders zu, muss es anders zugehen, möchte man meinen. Hat also die Gerechtigkeit Gottes nichts mit unserem Gerechtigkeitsbemühen zu tun?

Ich glaube, das genaue Gegenteil ist der Fall, das genaue Gegenteil ist der Sinn unseres Gleichnisses, ist die eigentliche "Pointe" unserer Geschichte:
Gott schließt - wie der Hausvater - mit jedem Menschen einen gleichen Vertrag. Wir sind Gleiche vor Gott, sind gleiche Gotteskinder, haben die gleiche Würde.
Gott bewertet nicht unsere unterschiedliche Arbeitskraft, nicht unser unterschiedliches Leistungsvermögen als Arbeitskraft und Konsument, nicht unseren unterschiedlichen Ehrgeiz und Erfolg, nicht unsere unterschiedliche Cleverness und Eleganz und Schönheit …(und was immer sonst noch uns unterscheidet.)
Gott hat mit jedem Menschen den gleichen Vertrag geschlossen.

Diese Pointe unserer Geschichte ist nun ganz und gar nicht unirdisch, ganz und gar nicht unpolitisch. Aus ihr lässt sich der entscheidende Maßstab für Gerechtigkeit ableiten, lässt sich prüfen, was das ist: Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht.

Worüber immer wir gegenwärtig in der Politik streiten - über Bildungs- und Arbeitsmarktreformen, über die Reform unseres Gesundheitswesens, unserer Sozialsysteme insgesamt, über Löhne und Gehälter und Renten: die Ergebnisse sind zu messen, haben wir zu rechtfertigen vor dem Maßstab der Gerechtigkeit als gleicher Freiheit. Als gleicher Freiheit der Teilhabe an Bildung, Arbeit, Kultur und Demokratie. Gerecht ist, was die individuellen natürlichen Ungleichheiten und die soziale Herkunft nicht zum Schicksal werden lässt. Gerechtigkeit gründet in der gleichen Würde jedes Menschen, in seiner "Gotteskindschaft". Sie zu verwirklichen, dazu reicht es nicht, dass wir gleiche Rechtssubjekte sind, gleiche Staatsbürger, gleiche Wahlbürger. Sie verlangt nicht Ergebnisgleichheit, sondern gleiche Lebenschancen und gleiche Teilhabemöglichkeiten an den öffentlichen Gütern - das sind Bildung und Kultur, Gesundheit und natürliche Ressourcen, innere und äußere Sicherheit. Für deren Zugänglichkeit ist der Staat, ist Politik verantwortlich. Wenn denn Gerechtigkeit das Ziel bleiben soll, dann dürfen diese Güter nicht vollends dem Markt überlassen werden. Das wird eben zur entscheidenden Gerechtigkeitsfrage: Was darf zur Ware werden, was nicht? Recht, Sicherheit, Bildung, Gesundheit … - darf das zur Ware werden? Über deren Erwerb der individuelle Geldbeutel, also Einkommens- und Reichtumsunterschiede entscheiden? Das wird zur entscheidenden Gerechtigkeitsfrage in einer Zeit, in der allzuviele der Privatisierung, dem Wettbewerb das Wort reden, wo der Markt immer mehr, tendenziell alles richten soll, weil er es angeblich besser könne.

Wenn die neoliberalen Marktideologen sich durchsetzten, dann würde an die Stelle der Demokratiezerstörung durch den totalen Staat des Faschismus oder des Kommunismus, der totale Markt, der "Marktstaat" treten, der den vor dem Recht (eben weil vor Gott) gleichen Bürger in den Kunden mit ungleicher Kaufkraft verwandelt. Worüber sollte noch demokratisch, gemeinschaftlich zu entschieden sein, wenn nur noch (fast) alles (individuell) zu kaufen ist? Um der Zukunft der Demokratie und eines friedlichen Zusammenlebens willen muss es bei dem altmodischen Ziel der gerechten Verteilung von Gütern und Lebenschancen bleiben, die "ein Leben in Freiheit ohne unwürdige Abhängigkeit und Ausbeutung" ermöglichen.

Weil wir alle gleiche Kinder Gottes sind, kommt allen Menschen gleiche Würde zu, deshalb haben sie gleiche Rechte und Ansprüche auf gleiche Freiheit. Dies immer wieder neu und allen Menschen zu ermöglichen, das ist Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht.

Gott schließt mit jedem Menschen den gleichen Vertrag!