anlässlich der Verleihung des Wenzel-Jaksch-Gedächtnispreises
Die Zumutungen des Wolfgang Thierse
Wer Wolfgang Thierse jemals in Berlin besucht hat, in seinem Bundestagsbüro oder im Haus des preußischen Bildhauers Johann Gottfried Schadow, in dem er seit einigen Jahren residiert, der hatte stets den Eindruck, nicht die Schaltzentrale eines Politikers, sondern die Stube eines Gelehrten zu betreten. An den Wänden Bücherregale, auf dem Schreibtisch Stapel von Blättern, Manuskripten und Mappen, auf dem Couchtisch Bücher und Zeitschriften. Ganz ähnlich sah das Zimmer von Botschafter František Černý aus, in dem er während seiner Berliner Jahre Gäste empfing, alle diplomatischen Anliegen hinter einem Anstrich bohemehafter Gelehrsamkeit und kultureller Neugierde verbergend. Wie Černý so hat auch Thierse Germanistik studiert, und wenn man ihn im schwarzen Hemd auf seiner Couch unter dem Willy-Brandt-Porträt von Andy Warhol sitzen sah, dann wurde einem sofort bewusst, dass man nicht einen Karrierepolitiker sprechen hörte, sondern eine jener Ausnahmeerscheinungen, für die sich die Türen zu hohen politischen Ämtern zumeist nur in der kurzen Phase einer Ausnahmesituation oder Umbruchzeit öffnen.
1943 in Breslau geboren, teilte Thierse als Kleinkind das Schicksal von mehr als 12 Millionen deutscher Flüchtlinge, Vertriebenen und Zwangsausgesiedelten, die die Folgen des verbrecherischen Regimes der Nationalsozialisten und des von ihnen angezettelten Weltkrieges bitter büßen mussten. So wurde aus dem Schlesier ein Thüringer und ein Schulkind unter dem Zeichen von Hammer und Sichel. Im Gegensatz zu den westlichen Besatzungszonen, war es den Vertriebenen in der russischen Zone, die sich bald als demokratische Republik bezeichnete, nicht gestattet, eigene Verbände zu gründen oder gar politische Absichten zu proklamieren. „Trauernde Erinnerung“, sagte Thierse 2011 im Bundestag, „war nur im Familienkreis und in der Kirchengemeinde möglich. Öffentlich hatten wir zur schweigen.“ (Bundestagsrede zur Charta der Heimatvertriebenen, 10.2.2011). Die Tätigkeit der Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik nahm er eher skeptisch und distanziert wahr, auch wenn viele DDR-Bürger „allabendlich in das Westfernsehen auswanderten“ (Gespräch vom 5.4.2017). Doch selbst die westlichen Fernsehberichte zeigten oft nur reduzierte Bilder, nur Trachten und polemische Redeausschnitte. Für ein differenziertes Bild fehlten entsprechende Informationen. Dass es neben den Landsmannschaften auch Verbände wie die katholische Ackermann-Gemeinde oder die sozialdemokratische Seliger-Gemeinde gab, war in der DDR so gut wie unbekannt. Das staatliche Gehäuse mit seinen ideologischen und wirtschaftlichen Zwängen bildete eine eiserne Haube, unter der es als „Umsiedler“-Kind schwierig genug war, einen Weg zu finden, wenn man nicht Mitglied der SED wurde.
Thierse, der in einer katholischen Familie aufwuchs, machte nach dem Abitur eine Schriftsetzerlehre in Weimar und studierte an der Humboldtuniversität Germanistik und Kulturwissenschaften. Als er sich 1976 in den Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann einreihte, verlor er sofort seine Stelle im Kulturministerium, die er nach dem Studium erhalten hatte, und konnte nur noch in einer untergeordneten Position am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften weiterarbeiten, womit er halbwegs glimpflich davonkam. Ein Kollege dort war der Germanist Kurt Krolop, der als Kind aus dem Sudetenland vertrieben worden war, ebenfalls kein SED-Mitglied war und nach 1989 ein international renommierter Professor der Prager Karlsuniversität werden sollte.
Mehr als zehn bleierne Jahre lang sah nichts danach aus, dass sich die Lebensverhältnisse noch einmal wesentlich verändern, dass Thierse zu einer repräsentativen Persönlichkeit der deutschen Politik werden sollte. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gärte es dann jedoch immer stärker unter der politischen Oberfläche. Als die DDR Anfang Oktober 1989 ihr 40jähriges Bestehen mit einer pompösen Parade feierte, hatte das „Neue Forum“ bereits mit seinem Aufruf die Zeit für „reif“ erklärt, und Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte in Prag vom Balkon der westdeutschen Botschaft den DDR-Flüchtlingen die erlösenden Worte zugerufen, dass ihre Ausreise in die Bundesrepublik möglich sei. Thierse erlebte die wohl dramatischsten Wochen und Monate seines Lebens: Am 9. November fiel die Berliner Mauer, im Januar 1990 wurde er Mitglied der neugegründeten SPD der DDR, im März Abgeordneter der Volkskammer, im Juni Parteivorsitzender, im August Fraktionsvorsitzender und im September nach dem Zusammenschluss der beiden Parteien Stellvertretender Vorsitzender der Gesamtpartei.
Thierse war zu diesem Zeitpunkt nicht ganz 47 Jahre alt. Der Fall der Mauer hatte die Türen zu einer rasanten Karriere geöffnet, und diese Karriere war noch lange nicht zu Ende. Im Oktober 1989 wurde er Mitglied des deutschen Bundestages, dem er bis 2013 angehören sollte, bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen im Dezember gewann er das Direktmandat Berlin Mitte/Prenzlauer Berg. Acht Jahre lang war er als stellvertretender Fraktionsvorsitzender tätig. Schließlich erreichte er den Gipfel seiner Karriere: im Herbst 1998 wurde er zum Bundestagspräsidenten gewählt. Seine erste Reise in diesem Amt führte nach Paris, die zweite nach Warschau und Prag. So betonte er die westliche und östliche Nachbarschaft, die die Bundesrepublik und die DDR traditionell pflegten. Nach der vorzeitigen Bundestagswahl von 2005 bekleidete er schließlich im Rahmen der großen und der folgenden schwarz-gelben Koalition weitere 8 Jahre das Amt eines Vizepräsidenten.
Thierse, der u.a. Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und der Aktion Sühnezeichen ist, der sich für die Errichtung des Holocaust-Mahnmals engagierte und seit dem vergangenen Jahr den politischen Club der evangelischen Akademie von Tutzing leitet, ist auf vielen Feldern tätig.
Mit der Seliger-Gemeinde verbindet ihn eine Einstellung, die der Verharmlosung des NS-Regimes ebenso kritisch gegenübersteht, wie der Bagatellisierung des Leids der Vertriebenen. Vielleicht sind Sozialdemokraten, die vertrieben wurden oder aus vertriebenen Familien stammen, in dieser Hinsicht doppelt sensibilisiert. Für sie ist der Kampf gegen Hitler und das Schicksal von Verfolgung, KZ-Haft und Exil ein wesentlicher Teil ihres Selbstverständnisses. Die sudetendeutschen Sozialdemokraten zum Beispiel bauen auf einer Tradition, die bis zu den Anfängen der Arbeiterbewegung in der Donaumonarchie zurückreicht. Sie waren es, die reichsdeutschen Sozialdemokraten nach dem Machtantritt Hitlers in Prag und in vielen Städten des Sudetenlands eine erste Heimstatt des Exils und eine Infrastruktur für die Widerstandsarbeit boten. Sie waren es auch, die bis zuletzt für den Erhalt der Tschechoslowakei kämpften und diesen Einsatz in vielen Fällen mit Verfolgung, KZ-Haft und Exil büßen mussten. Wenzel Jaksch zum Beispiel entging den Nationalsozialisten nur, weil er Zuflucht in der britischen Gesandtschaft in Prag fand und schließlich als Schiläufer getarnt über die Beskiden nach Polen und schließlich weiter nach England fliehen konnte.
Sudetendeutsche waren es schließlich, die nach Kriegsende in Bayern die neue Sozialdemokratie mit aufgebaut und bis zum Landesvorsitzenden und Oppositionsführer im Landtag repräsentative Positionen eingenommen haben. Die jährliche Würdigung der KZ-Opfer von Dachau am 1. Mai ist für die sudetendeutschen Sozialdemokraten ein Akt öffentlicher Anerkennung des Schicksals, das viele von ihnen mit Häftlingen aus nahezu allen europäischen Ländern teilten.
Die kritische Haltung, die Thierse gegenüber vielen Vertriebenenpolitikern eingenommen hat, die dieses Schicksal jahrelang weder zu kennen schienen, noch zu würdigen verstanden, ist vor diesem Hintergrund nur zu verständlich. Seine Kritik richtete sich gegen die verbreitete Neigung, die Vertreibung wie ein Unglück aus heiterem Himmel darzustellen. So als ob es den Nationalsozialismus und den Krieg nicht gegeben habe.
Es zählt allerdings auch zur Geschichte der Bundesrepublik, dass sich in den 1970er Jahren ein Klima der öffentlichen Meinung verfestigte, das Vertriebene undifferenziert in eine rechtsnationale Ecke stellte und jede Erinnerung an die Vertreibung als Verharmlosung der NS-Verbrechen denunzierte. Die Polarisierung war zeitweise so stark, dass sich zwei Gedenkkulturen etablierten, die sich gegenseitig auszuschließen schienen. Sudetendeutsche Sozialdemokraten saßen dabei jahrelang zwischen den Stühlen. Weil sie nach Kriegsende erleben mussten, dass Vertreibung und Zwangsaussiedlung vor Hitlergegnern nicht Halt machte und selbst Juden erneut leiden mussten, stellt für sie die Erinnerung an die Vertreibung nicht einen Gegensatz zum Gedenken an den NS-Terror dar, sondern eine notwendige, ja zwingende Ergänzung. Für sie ist nicht nur die Humanitas unteilbar, sondern auch die Erinnerung an das eigene Schicksal.
Auch Wolfgang Thierse zählt zu den Politikern, die neben der Kritik an einem einseitigen Erinnern an die Vertreibung die Vertreibung selbst nicht bagatellisiert oder gar aus dem Gedächtnis gestrichen haben. Das eigene Erlebnis und das Thematisierungsverbot in der DDR haben in ihm ein Bewusstsein wachgehalten, das zu seinem nachdrücklichen Engagement für das sogenannte „sichtbare Zeichen“ führte. Die Erinnerung an die Vertreibung sollte zu einer offiziellen Angelegenheit des Staates werden. Und als er bei den Koalitionsverhandlungen von 2005 merkte, dass sich die Außenpolitiker der Parteien nicht auf eine gemeinsame Linie verständigen konnten, übernahm er das Thema für die Arbeitsgruppe der Kulturpolitik, in der er gemeinsam mit Norbert Lammert den Durchbruch erzielte.
Ohne Wolfgang Thierse wäre die heutige „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, die dem vom BdV initiierten Projekt des „Zentrums gegen Vertreibungen“ einen wesentlichen Impuls verdankt, nicht zustande gekommen. Er setzte sich für eine gleichermaßen kritische und ausgewogene Betrachtung der Vergangenheit ein, für die nachdrückliche Thematisierung und Vorgeschichte des NS-Regimes ebenso wie für die ausführliche Darstellung des Schicksals der deutschen Vertriebenen. Thierse mutete beiden Seiten zu, die blinden Flecken ihrer jeweiligen Sicht zu reflektieren. Er mutete Vertriebenen zu, ihr eigenes und oft kontextloses Erinnern der korrigierenden Darstellung von Historikern aus Deutschland und anderen Ländern auszusetzen, und Politikern und Journalisten, für die Vertriebene nichts anderes als Ewiggestrige und Neonazis sind, mutete er zu, ihre einseitige Sicht durch die Erkenntnis zu ersetzen, dass die Vertreibung ein Ausmaß an Gewalt, Leid und Menschrechtsverletzungen darstellt, das höchste Beachtung und Empathie verdient.
Uns allen mutet er zu, jene differenzierende Denkweise anzunehmen, die NS-Verbrechen und Vertreibung nicht auf fatale Weise gegeneinander ausspielt, sondern als Zivilisationsbruch größten Ausmaßes begreift, wobei das von der Dimension wie von der Zahl der Opfer um ein vielfaches größere Verbrechen der Nationalsozialisten die Vertreibung oft erst ermöglichte und begünstigte. Dies anzuerkennen, ohne die Vertreibung als bloße Folge und Kollateralschaden abzutun, gehört zu den Grundüberzeugungen der Seliger-Gemeinde. Das ist der Grund, warum sie mit einem eigenen Preis an Wenzel Jaksch erinnert, der bis zuletzt gegen das dritte Reich, für den Erhalt der Tschechoslowakei und gegen die Vertreibung der Deutschen gekämpft hat. Das ist der Grund, warum sie den Wenzel-Jaksch-Gedächtnispreis des Jahres 2017 dem Sozialdemokraten, Menschenrechtler und Katholiken Wolfgang Thierse verleiht.