Auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) ist von der Sammelwut der Dresdner Behörden betroffen. Sachsens Regierung müsse vor der Öffentlichkeit Rechenschaft ablegen, fordert er.
INTERVIEW MARTIN KAUL
taz: Herr Thierse, Sie sind Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Die Dresdner Staatsanwaltschaft dürfte auch Ihre Handydaten abgeschöpft haben, als Sie im Februar gegen Neonazis demonstriert haben. Gehören Sie einer kriminellen Vereinigung an?
Wolfgang Thierse: Ich hoffe nicht, dass der Bundestag schon unter die Rubrik kriminelle Vereinigung fällt. Also: ein klares Nein.
Die Dresdner Ermittler suchen nach extremistischen Gruppen. Beweisen Sie erst mal, dass Sie nicht dazugehören.
Im Rechtsstaat ist einer der elementarsten Grundsätze: Nicht Unschuld, sondern Schuld ist zu beweisen. Ich bin im Februar mit friedlichen Menschen zusammen gewesen, habe mich freundlich mit Polizisten unterhalten, habe niemanden beschimpft. Ich habe nur von meinem demokratischen Recht Gebrauch gemacht, mein Gesicht im Protest gegen Neonazis zu zeigen. Fürs Demonstrieren will ich mich nicht schämen müssen, im Gegenteil.
Am Rande der Demonstrationen wurden auch Polizisten attackiert und Barrikaden errichtet. Gehört das auch zur Demonstrationsfreiheit?
Die Demonstrationsfreiheit hört auf, wo Gewalt beginnt. Deshalb ist natürlich die Polizei zu unterstützen, wo sie Gewaltausbrüche zu verhindern oder im Nachhinein aufzuklären versucht. Dann ist es okay, dass die Dresdner Staatsanwaltschaft mindestens eine Million Telefondaten und über 40.000 Personendaten von Menschen erhoben hat, die im Umfeld der Demonstrationen telefoniert haben? Natürlich ist das nicht in Ordnung. Denn hier geht es um Grundrechtseingriffe. Es ist ein rechtsstaatlicher Grundsatz, dass die Mittel, mit denen der Staat agiert, verhältnismäßig sein müssen. Es kann aber nicht verhältnismäßig sein, in die Grundrechte von zehntausenden Menschen einzugreifen, um 10, 20 oder 50 Täter zu ermitteln. Wenn so etwas geschieht, müssen in einem Rechtsstaat die Verantwortlichen, in dem Fall der sächsische Innenminister, öffentlich Rechenschaft ablegen. Und das tut er bisher nicht. Sie haben Sachsens Innenminister Markus Ulbig, CDU, einen offenen Brief geschrieben. Tenor: Sachsens Vorgehen könne zu einer Bedrohung für Bürgerrechte, Demokratie und Rechtsstaat werden. Welche Antwort erwarten Sie vom sächsischen Innenminister?
Wir brauchen endlich eine umfassende Aufklärung. Was haben Polizei und Staatsanwaltschaft getan? Ist hier uferlos vorgegangen worden? Gab es angemessene Entscheidungen? Welche Personen verantworten das? Das interessiert die Öffentlichkeit. Denn wir wissen doch noch gar nicht genug. Ich möchte auch erfahren, wann die betroffenen Personen, die in Mitleidenschaft gezogen worden sind, obwohl sie keinerlei Straftaten begangen haben, informiert werden. Diese Fragen muss der Minister endlich beantworten.
Die sächsischen Behörden finden nichts Schlimmes an ihrem Vorgehen.
Und genau das ist doch bedenklich. Wenn ich es richtig sehe, gibt es in anderen Bundesländern keine vergleichbaren Vorgänge. Das zeigt sich auch an anderen Beispielen. Es scheint mir in Sachsen schon eine besonders bedenkliche Geisteshaltung vorzuherrschen. Diese Geisteshaltung muss kritisch und öffentlich debattiert werden.
Welche anderen Beispiele meinen Sie?
Als ich am 19. Februar in Dresden war, gehörte es zu meinen wirklich erschreckenden Eindrücken, dass dort die gesamte Innenstadt menschenleer war, weil sie abgesperrt war. Selbst eine Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes vor dem eigenen Gewerkschaftshaus, weit weg von den Neonazis, wurde verboten. Die Grundüberzeugung dort war: Wir müssen die ganze Innenstadt freihalten, damit die Neonazis ungestört demonstrieren können. Es gibt aber nicht nur für Neonazis ein Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit. Ich kenne solche Beobachtungen von anderen Orten in Deutschland nicht.
Die sächsischen Behörden sehen kein Problem, die sächsischen Medien auch nicht. Was müssen Sie sich da eigentlich einmischen, wenn die Sachsen glücklich sind?
Es geht hier ja nicht um mich, sondern um Grundfragen des demokratischen Rechtsstaates. In Sachsen wird scheinbar nach dem Motto vorgegangen: "Wir werten erst mal massenhaft Daten aus, dann werden wir schon ein paar Verdächtige finden." Dass die Mehrheit der sächsischen Bevölkerung das nicht interessiert, hoffe ich nicht. Aber ich weiß auch aus eigener Erfahrung: Rechtsstaatliche Verfahrensweisen müssen auch von betroffenen Minderheiten verteidigt werden.
Die Dresdner Staatsanwaltschaft sagt: Wer sich nichts zuschulden kommen lässt, hat auch nichts zu befürchten. Entschuldigung, das ist doch wohl selbstverständlich. Alles andere wäre ja auch noch schöner. Aber dieser Satz kann doch nicht die Grundlage dafür sein, alle und jeden einer Verdächtigungsüberprüfung zu unterziehen und keine vernünftigen polizeilichen Grenzen zu beachten. Der Staat darf sich nicht einfach alles erlauben. Selbstbeschränkung bei der Anwendung der Mittel gehört zu den Grundprinzipien eines Rechtsstaates. Das könnten auch sächsische Polizisten, Staatsanwälte und Minister wissen. In der restlichen Bundesrepublik gilt das doch auch.