Vor 20 Jahren beschloss der Bundestag den Berlin-Umzug - Thierse staunt bis heute
Julia Emmrich Miguel Sanches - Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Berlin. Es war eine Sternstunde des Parlaments. Noch 20 Jahre später gerät Wolfgang Thierse (67) ins Schwärmen über die Debatte zum Bonn-Berlin-Umzug von Bundestag und Regierung. Der SPD-Mann führte die Berliner an, der Christdemokrat Norbert Blüm kämpfte für Bonn. An jenem 20. Juni 1991 ließen noch viele andere aufhorchen, Helmut Kohl, Willy Brandt und Wolfgang Schäuble - alle für den Umzug. Im WAZ-Gespräch zeichnet der Bundestagsvizepräsident diesen historischen Tag nach.
Herr Thierse, mit welchen Gefühlen sind Sie damals in die Bundestagssitzung gegangen?
Mit großer Skepsis. Mein Gefühl war: Die Sache läuft für Bonn.
Weil NRW so mächtig war?
Das ist so. Die NRW-Lobby war stark, ist es bis heute. Umso aufregender der Ausgang. Das war eine echte Überraschung.
Was gab den Ausschlag?
In der Union und in der SPD gab es jeweils eine knappe Mehrheit für Bonn. Die kleinen Parteien gaben den Ausschlag. Wir "Berliner" haben uns viel Mühe gegeben. Unsere Redner waren auch leidenschaftlicher. Und im Hintergrund drängte Bundespräsident Richard von Weizsäcker... Das war hilfreich. Die Altvorderen - Brandt, Vogel, Kohl, Schäuble - waren alle für Berlin. Ich werde Brandts Rede nie vergessen: "Stellen Sie sich vor, die Franzosen hätten nach 1945 entschieden, in Vichy zu bleiben."
Da heulten die Bonn- Anhänger auf.
Das war gewagt. Es zeigte aber die ganze Emotionalität. Für Brandt war es unvorstellbar, ja absurd, in Bonn zu bleiben.
17 Stimmen gaben den Ausschlag. Eng war es.
Es war eine wirklich offene Debatte. In dieser Form habe ich das nicht noch einmal erlebt. Der Einfluss der Redner war beträchtlich. Man wagte es kaum, auf die Toilette zu gehen, um ja nichts zu verpassen.