Wolfgang Thierse im Interview mit der Rhein-Zeitung über seinen Entschluss, nicht wieder anzutreten
Wie schwer fällt es Ihnen, nach 24 Jahren aufzuhören?
Die Entscheidung ist mir schwergefallen, denn ich bin nach wie vor mit Leidenschaft Parlamentarier.
Hat man nicht irgendwann genug vom Politikbetrieb?
Noch immer macht mir Politik Vergnügen, weil sie mit Kommunikation zu tun hat. Es fasziniert mich, Menschen von etwas zu überzeugen, mich selbst überzeugen zu lassen, neue Themen, neue Sachverhalte zu begreifen, um vernünftige und richtige Entscheidungen zu treffen. Immer wieder neu zu lernen, finde ich das Schönste am Parlamentarierberuf.
Können Sie sich Politikverdrossenheit in der Bevölkerung erklären?
Ja, aber trotzdem ist es doch immer besser, mitzureden und mitzumischen, statt wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen.
Kritiker der Euro-Rettungsmaßnahmen machen sich erhebliche Sorgen um die Demokratie …
Das kann ich nachvollziehen, das ist aber etwas anderes als Politikverdrossenheit. Was wir gegenwärtig erleben, ist wirklich ein dramatischer Moment: eine Entscheidungsschlacht über die Zukunft demokratischer Politik, nämlich um den Vorrang demokratischer Politik gegenüber der Finanz- und Wirtschaftswelt. Wer hat am Schluss das Sagen? Die anonymen Märkte? Die Finanzmanager und Banker, die alle nicht gewählt sind? Oder diejenigen, die durch Wahlen legitimiert sind und sich gegenüber dem Wähler immer wieder neu verantworten müssen?
Wann wird das entschieden?
Wir erleben gerade eine dramatische Zuspitzung des Konflikts. Ohne mehr gemeinsame europäische Politiken geht es nicht. Nationalstaaten allein können sich nicht mehr behaupten gegen die Finanzmärkte. Man muss in Europa gemeinsame Regeln und Kriterien durchsetzen. Erst dann wird die demokratische Politik wieder auf Augenhöhe mit der Finanz- und Wirtschaftswelt sein.
Aber schwächt nicht auch das den einzelnen Parlamentarier, wenn mehr Macht nach Europa abgegeben wird?
Deswegen brauchen wir ja eine Stärkung der europäischen Demokratie, des europäischen Parlaments. Und wir müssen uns genau darüber klar werden, was künftig auf europäischer Eben, auf nationaler oder auf regionaler Ebene entschieden werden muss. Die kritische Frage nach der demokratischen Legitimation muss uns immer begleiten. Aber die Antwort darf nicht heißen, dass, nur weil die Krise in atemberaubender Geschwindigkeit verläuft, Politik nichts mehr zu entscheiden hätte!
Wurde das Thema Rechtsradikalismus zu lange völlig unterschätzt?
Seit Bekanntwerden der NSU-Mordserie nicht mehr. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind wir mit dieser rechtsextremistischen Herausforderung immer "konjunkturell“ umgegangen. Es passiert etwas, alle sind in heller Aufregung, nach ein paar Tagen ist wieder Ruhe. Wir brauchen aber eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und alltäglicher Unmenschlichkeit in allen Bereichen der Gesellschaft.
Wie wichtig wäre ein NPD-Verbot?
Es würde nicht alle Probleme lösen, aber es würde den geradezu obszönen Zustand beenden, dass nämlich der demokratische Staat seine Feinde mitfinanziert. Denn solange die NPD legal ist, erhält sie auch Zuwendungen aus der staatlichen Parteienfinanzierung. Wichtiger noch ist es aber, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in den Köpfen der Menschen zu bekämpfen.
Sie sind mal als "Ober-Ossi“ bezeichnet worden. Brauchen die Ostdeutschen einen Fürsprecher?
Ich bin der Überzeugung, dass man weiter Politiker braucht, die Sprachrohr des Ostens sind, weil der Prozess der inneren Vereinigung noch nicht an sein Ende gekommen ist. Es gibt noch soziale, ökonomische, mentale Unterschiede. Und die müssen in der Politik auch zur Sprache gebracht werden. Dafür braucht es Politiker mit eigener ostdeutscher Prägung.
Angela Merkel und Joachim Gauck stehen als Ostdeutsche an der Spitze des Staates.
Bei Angela Merkel spielt ihre ostdeutsche Biografie eine ganz untergeordnete Rolle. Sie hat sie offenbar getilgt, um in der sehr westdeutsch geprägten CDU Karriere zu machen. Bei Joachim Gauck spielt die DDR-Erfahrung eine ganz gewichtige Rolle, aber er ist jetzt Repräsentant des ganzen Landes. Im Parlament ist man immer nur ein Teil des Ganzen, und da muss man auch als Ostdeutscher so selbstbewusst für die Lösung ostdeutscher Probleme eintreten wie das die Bayern auch machen. Bayerische Politiker sind ganz selbstverständlich und ohne dass sie dafür kritisiert werden bayerische Lobbyisten. Ostdeutsche Lobbyisten werden auch gebraucht.
Kann die ostdeutsche Lobby es mit der bayerischen aufnehmen?
Sie ist viel schwächer. Die Ostdeutschen sind nicht lautstark, nicht energisch genug. Andererseits: Wo kämen wir hin, wenn sich die ostdeutschen Teile von CDU und SPD so benehmen würden wie die CSU?
Helmut Kohl hat Sie als parteiischsten Bundestagspräsidenten aller Zeiten bezeichnet. Sind Sie darüber hinweg?
Es war noch schlimmer: Er sagte, ich sei der schlimmste Parlamentspräsident seit dem Nationalsozialisten Hermann Göring. Für diese Entgleisung hat sich Helmut Kohl niemals entschuldigt. Das tut weh.
Sie haben oft Gegenwind erfahren. Wie gingen Sie damit um?
Das gehört zur Politik dazu. Wer allzu wehleidig ist, sollte lieber Gedichte schreiben und nicht Politiker werden.
Das Gespräch führte Rena Lehmann