Der 30. Juni war ein dramatischer Tag – mit vermutlich längerer Nachwirkung. Dieser Tag verdient einen Nachtrag. Er hatte zwei Sieger und zwei Verlierer. Christian Wulff hat gewonnen, wenn auch mit erheblicher Mühe – ich wünsche ihm eine gute Amtszeit. Der andere und überraschende Sieger heißt Joachim Gauck. Er hat mit seinem unnachahmlichen Pathos, seiner persönlichen Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft, seiner Akzentuierung von Freiheit und Verantwortung über die Parteien hinaus viele Menschen angesprochen und für demokratisches Engagement begeistert.
Die erste Verliererin ist Angela Merkel. Man stelle sich einmal vor: Die Kanzlerin wäre – nach der Erschütterung über den plötzlichen Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler – auf das Angebot von Gabriel/Trittin eingegangen, einen geeigneten, gemeinsamen Kandidaten zu finden.
Klaus Töpfer wäre möglich gewesen oder Joachim Gauck (die Festlegung auf diesen erfolgte erst später). Hätte die Kanzlerin, in einem Geistesblitz, diese Chance wahrgenommen, und vier Parteien hätten einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten nominiert und gewählt – Merkel wäre wie Phoenix aus der Asche gestiegen, die krisenhafte Situation der Koalition überstrahlend und vielleicht gar überwindend. Die deutsche Öffentlichkeit hätte sie gewiss dafür gefeiert. Stattdessen hat sie eine parteipolitische Lösung gesucht, die der Krise der Koalition und der eigenen Partei abhelfen sollte und sie damit eher verschärft.
Der eigentliche Verlierer aber ist die Partei „Die Linke“. Gauck sei ein Mann der Vergangenheit, so Gesine Lötzsch; Diether Dehm nannte ihn Brunnenvergifter und Hexenjäger. Oskar Lafontaine verdächtigte ihn der Stasi-Kumpanei. Und so weiter. Das musste jedem wehtun, der eine verwandte biografische Erfahrung hinter sich hat. Vor allem verraten diese Entgleisungen eines: Gauck erinnert die Linke an ihre – unbewältigte – SED-Vergangenheit. Und deshalb hassen sie ihn. Dieser Hass hat sie daran gehindert, die Chance zu sehen, die in der Kandidatur von Gauck lag – für unsere Demokratie, für die Opposition und darin auch für die Linkspartei selbst. Ihr geradezu irrationales Verhalten, die geschlossene Ablehnung Gaucks, hat mehr als nur einen atmosphärisch-emotionalen Schaden verursacht.
Dieses Verhalten hat die Unterschiede zwischen SPD und Grünen einerseits und der Linken andererseits bis zum Abgründigen vertieft. Die Linke ist unwillens und unfähig, über ihren SED-Schatten zu springen. Das beweisen alle in dieser Partei, auch die sogenannten Reformer und Pragmatiker, sonst hätten sie die Chance dieser Wahl zu einem Signal an die anderen Oppositionsparteien genutzt. Die Partei wird noch immer beherrscht von einem dichotomen politischen Weltbild: Wir gegen alle anderen, mal trotzig, mal wehleidig.
Wer die Bundestagsreden und öffentlichen Äußerungen der Linken-Politiker verfolgt, nimmt wahr: Die Aversion, die Antipathie gegenüber der Sozialdemokratie ist das emotionale Band, das die widersprüchlichen Flügel dieser Partei eint. Die Reformer, so es sie denn gibt, haben sich dem Geschlossenheitsgebot gebeugt und ihrer Partei damit keinen Dienst erwiesen. So hat die Linke ihre Bereitschaft dementiert, regieren zu wollen, also eben auch personelle Kompromisse einzugehen. Die Unterstützung eines bis in die konservativ-liberalen Reihen zustimmungsfähigen Kandidaten hätte ein Zeichen für Kooperationsbereitschaft und Koalitionsfähigkeit sein können. Die Chance ist vertan, das ist eine Enttäuschung.
Rot-Grün-Rot auf Bundesebene ist in die Ferne gerückt. Diese – in einem Fünf-Parteien-System notwendige – Perspektive als Alternative zu Schwarz-Gelb ist nicht realistisch, nach diesem Tag ist das noch deutlicher als zuvor, ohne die Klärung all der Fragen, deren Ungeklärtheit die Linke demonstriert hat. Diese Aufgabe können weder SPD noch Grüne ihr abnehmen. Die muss sie selber lösen!