Unterschrift Wolfgang Thierse

Beitrag Rücktritt Käßmann

 
8. März 2010

"Die Freiheit eines Christenmenschen" - Beitrag zum Rücktritt von Margot Käßmann

Im März 2010 erschien ein Beitrag von Wolfgang Thierses in den Mitteldeutschen Kirchenzeitungen "Glaube und Heimat" und "Der Sonntag" zum Rücktritt von Bischöfin Käßmann.

 
"Die Freiheit eines Christenmenschen" - von Wolfgang Thierse

Sollten Menschen in herausgehobenen Positionen ­Vorbild sein? Oder sind die Maßstäbe, die an sie angelegt werden, zu hoch? Margot Käßmanns Rücktritt hat über diese Fragen eine lebhafte Diskussion ausgelöst.

Margot Käßmanns Verfehlung und ihr Rücktritt – sie haben eine heftige öffentliche, auch sehr emotionale Debatte ausgelöst über die Frage: Was darf man – legitimerweise – erwarten, was darf man verlangen von Menschen in herausgehobenen öffentlichen Ämtern in Politik, Gesellschaft, Kirche? Sollen sie, müssen sie Vorbild sein, und wenn ja, in welchem Sinne?

Zunächst eine einfache Beobachtung: Im öffentlichen Amt, in herausgehobener Position sind Siege, sind Erfolge strahlender, erscheinen schöner und größer, weil öffentlich – das macht das öffentliche Amt verführerisch. Zugleich aber sind Niederlagen, Fehler, Misserfolge schlimmer und schmerzlicher, weil eben öffentlich – das macht das öffentliche Amt riskant. Mit einem öffentlichen Amt wächst nicht nur die Verantwortung, sondern auch der Zwang, Vorbild, gar vollkommen sein zu müssen oder jedenfalls besser als die (beobachtende) Mehrheit – die zugleich argwöhnisch verfolgt, ob die öffentliche Person diese Erwartung auch erfüllt. Wehe, wenn nicht.
Aber die Person im öffentlichen Amt bleibt doch ein Mensch, also fehlbar, unvollständig, des Erbarmens würdig! Sie wird (fast) nie identisch sein können mit dem erwünschten Idealbild, mit der von vieler Leute Wünsche und Hoffnungen gemalten Ikone von diesem Menschen. Eine Ikone aber ist ein ohne Tiefe gemaltes Bild. Selbst im Amte sind wir indivi­duelle Person, nie ganz identisch mit einem Amt, das Amt bleibt mehr als dessen Inhaber.

In einem Kommentar der »Berliner Zeitung« war zu lesen: Bischöfin Käßmann »sei über ihren moralischen Hochmut gestolpert – rufen ihr diejenigen hinterher, die jegliche Moral zum Hochmut erklären, die über ihre Begriffe geht.« Und tatsächlich: »Moralist«, »Gutmensch« sind zu Schimpfworten in der medialen Öffentlichkeit geworden. Allzu hohe moralische Ansprüche erwecken Misstrauen und Spott. Willkommen in unserer Gosse, wenn einer scheitert.

Sollten wir also die Maßstäbe absenken, weil wir doch allzu oft unter ihnen bleiben? Was ist wirklich zu verlangen von Menschen in »öffentlichen Ämtern«? Gewiss nicht, dass sie Heilige sind oder werden. Aber doch, dass sie Vorbilder sind in einem ganz bestimmten Sinn: Politiker sollten Vorbilder sein für die Einhaltung der Regeln, die für unser demokratisches Gemeinwesen konstitutiv sind, sie sollten erkennbar für das Gemeinwohl engagiert arbeiten und nicht nur fürs eigene materielle Wohl. (Wo das nicht geschieht, haben die Bürger die demokratische Möglichkeit, den betreffenden Politiker abzuwählen.) Wirtschaftsmanager sollten nachvollziehbar für das Wohl des Unternehmens tätig sein, also nicht nur für die Eigentümer, sondern ebenso auch für die Arbeitnehmer. (Von Rücktritten nach folgenreichen Fehlentscheidungen ist in diesem Milieu wenig bekannt.) Bischöfe und Pfarrer sollten das Evangelium mit Überzeugung und glaubwürdig vermitteln und vertreten. Müssen wenigstens sie dafür Heilige sein? Nein. Auch die Jünger Jesu waren es nicht, sie waren vielmehr gewöhnliche Menschen, Petrus hat sogar gelogen. Trotzdem wurden sie Zeugen Jesu und seiner Lehre – weil sie durch ihr Leben und Sterben für die Frohe Botschaft einstanden.

Margot Käßmann sei an ihren eigenen Maßstäben gescheitert, heißt es. Aus einer falschen Augenblicksentscheidung wurde ein schwerwiegender Fehler: Die Bischöfin hat daraus Konsequenzen gezogen. Mit ihrem Rücktritt bestätigt sie jene moralischen Maßstäbe, an deren Geltung sich so viele stören! Musste sie unbedingt zurücktreten, war ihre Entscheidung alternativlos? Nein, gewiss nicht, aber sie hat sich in Freiheit und Demut so entschieden. Das verdient dankbaren Respekt, auch wenn ich traurig bin über den Verlust. Margot Käßmann hat ein Beispiel gegeben für die Freiheit eines Christenmenschen.