Unterschrift Wolfgang Thierse

Woche der Brüderlichkeit

 
10. März 2013

„Erinnern um der Demokratie willen“: Festvortrag von Wolfgang Thierse anlässlich der Woche der Brüderlichkeit

Anrede,

das Jahresthema der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit ist klug gewählt: „Sachor (Gedenke): Der Zukunft ein Gedächtnis“. Dieses Motto vereint einen zentralen Begriff der jüdischen Identität (Erinnere Dich, Gedenke!) mit einer gesellschaftspolitischen Maxime. Es verbindet Vergangenheit und Zukunft und verweist darauf, dass Erinnerung und Gedenken kein Verfallsdatum haben – vor allem nicht nach den blutigen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts.

 

Primo Levi, der im KZ Auschwitz inhaftiert war, formulierte dafür eine schlüssige Begründung – in knappen Worten: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“

 

Das Jahr 2013 ist im besonderen ein Jahr der Erinnerung und des Gedenkens, ich nenne nur einige Daten:  

 

● Vor 80 Jahren übernahmen die Nationalsozialisten die Macht und errichteten ihr mörderisches Regime. Vor 80 Jahren, am 10. März 1933, begann in Würzburg der Terror gegen das angeblich „volkszersetzende Schrifttum“ – mit einem Verbrennungsakt von Flugblättern, Zeitungen und sogenanntem Propagandamaterial.  Am 10. Mai 1933 loderten dann in Berlin und anderen Städten die „Scheiterhaufen für undeutsches Schrifttum“, wie die Nazis es nannten. Die Bücher der sogenannten „Reichsfeinde“ gingen mit pathetischen Sprüchen in Flammen auf, die Gleichschaltung des kulturellen Lebens erreichte ihren Höhepunkt.

 

● Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme verstärkten die NS-Büttel ihre Angriffe auf Juden in Deutschland: Sie boykottierten jüdische Geschäfte, Warenhäuser, Banken, Arztpraxen, Rechtsanwalts- und Notarskanzleien.

 

● In der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 brannte der Berliner Reichstag. Mit der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 wurden die Grundrechte der Weimarer Verfassung praktisch außer Kraft gesetzt. Diese Verordnung ebnete den Weg zur Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur.

 

● Fünf Jahre später, vor 75 Jahren, loderten die Flammen im gesamten Deutschen Reich – in der sogenannten Reichskristallnacht am 9./10. November 1938. Die Nazi-Schergen zerstörten über 1.400 Synagogen, Betstuben, Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe. Zehntausende Juden wurden in diesen Tagen inhaftiert, Hunderte von ihnen ermordet. Die Novemberpogrome markieren den blutigen Übergang von der staatlich sanktionierten Diskriminierung der Juden zu ihrer systematischen Verfolgung. Diese Flammen bildeten den grellen Auftakt zur Vernichtung des europäischen Judentums – weithin sichtbar und vernehmbar, die nationalsozialistische Stimmungsmache und Propaganda spielte dazu die zynische Begleitmusik.

 

Diese historischen Ereignisse unserer jüngeren deutschen und europäischen Geschichte vergegenwärtigen wir uns in diesem Jahr.

 

Erinnern und Gedenken sind nicht Selbstzweck. Sie dienen vielmehr unserer Selbstvergewisserung, unserer Verortung im Hier und Heute. Sie sind unerlässlich für die Gestaltung unserer Gegenwart, denn sie sollen unsere Wachsamkeit für heutige Fehlentwicklungen und Gefahren stärken. Denken Sie an die unsäglichen antisemitischen Vorfälle des letzten Jahres – in ganz Deutschland. Die von der Amadeu-Antonio-Stiftung in Berlin erstellte Chronik dieser Übergriffe umfasst viele Seiten, darunter folgende Einträge:

 

● In Kaiserslautern attackieren Hooligans den israelischen Fußballspieler Itay Shechter.

 

● In Berlin müssen sich jüdische Schülerinnen antisemitische Sprüche und Beleidigungen anhören.

 

● Ebenfalls in Berlin wird der Rabbiner Daniel Alter von vier Jugendlichen niedergeschlagen, vor den Augen seiner Tochter. „Bist Du Jude?“, fragte ihn einer Täter und prügelte los.

 

● Mit hasserfüllten Pöbeleien sieht sich auch der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, konfrontiert, nachdem er an Jom Kippur seine Berliner Synagoge verlassen hatte.

 

● Zahlreiche jüdische Friedhöfe werden geschändet: u.a. in Weimar-Roth (an der Lahn), in Lollar (Mittelhessen), in Delmenhorst und Wildeshausen (Niedersachsen), im hessischen Florstadt, im bayerischen Treuchtlingen, in Alzey (Rheinland-Pfalz), mehrfach in Kröpelin und Anklam (Mecklenburg-Vorpommern). 

 

● In mehreren Städten werden die Stolpersteine zur Erinnerung an Opfer des Holocaust gewaltsam herausgerissen und gestohlen (so in Greifswald und Schwedt), in anderen Städten kommt es zu antisemitischen Schmierereien und Sieg-Heil-Rufen vor Synagogen und Denkmälern (u.a. in Wuppertal, Regensburg, Berlin).

 

● Die vielen antisemitischen E-Mails und Briefe, die regelmäßig in Jüdischen Gemeinden eingehen, sind in der Chronik der Amadeu-Antonio-Stiftung gar nicht erst verzeichnet. Viele dieser Äußerungen gehen nicht mehr anonym ein, wie in früheren Jahren, sondern mit Namen und Adresse. Man traut sich wieder, Juden zu beschimpfen.

 

Eine Reihe solcher Zuschriften habe auch ich erhalten – anlässlich der Beschneidungsdebatte im Deutschen Bundestag, die ja zugleich und ganz wesentlich auch eine Debatte um Religionsfreiheit war. Ich finde, der Bundestag hat dazu im November 2012 eine angemessene, tragfähige Entscheidung getroffen. Aber das Ausmaß des artikulierten antisemitischen, antimuslimischen und antireligiösen Denkens war erschreckend.

 

Meine Damen und Herren,

 

der Bedarf an historischer Erinnerung und gesellschaftlicher Verständigung über Konsequenzen daraus ist augenscheinlich. Umso mehr freue ich mich, dass die Frage nach der Zukunft des Gedenkens und nach den Perspektiven unserer Erinnerungskultur nicht nur den qua Amt „Zuständigen“ überlassen bleibt – den Politikern und den Multiplikatoren der politischen Bildungsarbeit. Das wäre fatal!

 

Nein, an dieser Debatte beteiligen sich viele gesellschaftliche Akteure, darunter so traditionsreiche Vereinigungen wie die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Die Wiesbadener Gesellschaft GCJZ feiert in diesem Jahr ein Jubiläum – ihren 65. Gründungstag. Das beeindruckende Engagement der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit dient unserer ganzen Gesellschaft – im Sinne eines Lernprozesses. Im interreligiösen Dialog lernen wir (von der Vergangenheit), aktuelle Herausforderungen gemeinsam zu bestehen.

 

An die geschichtliche Erfahrung der Nazi-Diktatur auf deutschem Boden, an Opfer und Täter, an Ursachen und Folgen zu erinnern, sie konsequent aufzuarbeiten – das gehört als konstitutives Element zu unserem demokratischen Selbstverständnis, inzwischen. Nicht zu verdrängen und nicht zu leugnen, nicht dem gewissermaßen „spontanen“ Verlangen nachzugeben, die furchtbaren Naziverbrechen zu beschönigen und zu vergessen – das gehört wirklich zum moralischen Fundament der Bundesrepublik und nur deshalb konnte sie (die Bundesrepublik), glaube ich, auch als Demokratie gelingen. Die seit 1952 stattfindenden Wochen der Brüderlichkeit haben daran ihren Anteil!

 

Seit 1989, seit der staatlichen Vereinigung haben wir Deutsche nun die Verpflichtung zu einer „doppelten“ Aufarbeitungs- und Erinnerungsarbeit. Zwei verschiedene, wahrlich verschiedene Vergangenheiten sind zu erinnern, gegensätzliche Geschichtsbilder wirken nach, die erlebte Geschichte der DDR ist noch (und wohl noch für einige Zeit) Teil der Biografie lebender Menschen. Sie ist noch nicht distanziert und gewissermaßen „objektiviert“ zu betrachten. Manche Konflikte rühren daher. Es gibt noch eine Menge Menschen, die mit der DDR – wie auch immer und häufig sehr konfliktreich – existenziell verbunden waren oder sind. Ich erinnere daran, weil man wissen sollte: Die Vereinigung der Erinnerungen und die Entwicklung einer gemeinsamen Gedenkkultur – sie sind ein Teil, ein durchaus schwieriger Teil des deutschen Vereinigungsprozesses, in dem wir noch mitten drin stecken. Und sie sind auch ein Teil des europäischen Vereinigungsprozesses. Wie vereinigt man die Erinnerungen an die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Stalinismus? Darüber wird in Europa, in Brüssel z.B., diskutiert – mit offenem Ausgang.

 

Aber: Soll und darf Gedenken überhaupt „von oben“ organisiert, gewissermaßen staatlich verordnet werden? Sind die differenzierten, vielfältigen, persönlichen Erinnerungen überhaupt zu vereinigen, gar im Sinne von „vereinheitlichen“? Solcherart autoritäre Versuche gehörten – ich erinnere mich daran – zur kommunistischen Vergangenheit, und sie sind nicht sonderlich geglückt. In mancher Hinsicht waren sie – wenn ich das so nennen darf – sogar kontraproduktiv. Wenn man heute über Neonazis spricht, danach fragt, warum Rechtsextremismus in Ostdeutschland – ganz offensichtlich, das ist nicht zu beschönigen – ein brutaleres Gesicht hat und stärker wahrnehmbar ist, obwohl es nicht nur um ein ostdeutsches Problem geht, dann muss man auch über die Vorgeschichte reden und über autoritären, verordneten Antifaschismus, der sein Gegenteil gewissermaßen produziert. Das soll keine Entschuldigung sein, aber es gehört mit zur eigentümlichen Vorgeschichte unserer gegenwärtigen Probleme.

 

Der autoritäre Gestus, ein verordnetes Geschichtsbild, beides passt nicht zu einer Demokratie, dekretorische und inhaltlich-normative Festlegungen der Geschichtsinterpretation ebenso wenig. Wenn schon Geschichtspolitik betrieben werden soll, dann muss sie deliberativ sein, diskutierend, streitend! Die Vielfalt der individuellen wie kollektiven Erinnerungen, die Diskussion über deren Interpretation in der Geschichtswissenschaft, in den Künsten, in der politischen Öffentlichkeit, die unausweichlich notwendigen Rituale und Einrichtungen des Erinnerns und der Weitergabe der Erinnerungen – das alles zusammen macht erst eine lebendige demokratische Erinnerungskultur aus. Dafür gilt es geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, die erforderlichen institutionellen und finanziellen Strukturen bereitzustellen. Und das ist dann, unausweichlich, auch Geschichtspolitik.

 

Unser nationales Parlament, der Bundestag, ist sich seiner Verantwortung in dieser Frage sehr wohl bewusst gewesen und, wenn ich es richtig sehe, auch weiterhin bewusst, was sich auch an seinen geschichtspolitischen Entscheidungen ablesen lässt. Seit der Wiedervereinigung hat der Bundestag mindestens drei weitreichende geschichtspolitische Entscheidungen gefasst. Und wie es in einer gut funktionierenden Demokratie sein sollte, gingen ihnen jeweils langjährige, teilweise sehr heftige zivilgesellschaftliche Debatten voraus, die vom Parlament schließlich aufgegriffen und dann zu Beschlüssen geführt wurden.

 

Erstens der Beschluss über den Bau des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Es war übrigens – und das ist ein schönes Symbol – der letzte Beschluss des Bundestages vor seinem Umzug von Bonn nach Berlin. Es war, das ist nicht unwichtig, die Entscheidung für ein erstes gemeinsames Erinnerungsprojekt des wiedervereinigten Deutschlands. Hier kam zum Ausdruck, dass sich das geeinte Deutschland zu seiner Geschichte bekennt, indem es im Zentrum seiner Hauptstadt an das größte Verbrechen seiner Geschichte erinnert. In jener Stadt Berlin, die zwar nicht der Ort des Massenmordes war, von der aus aber die systematische, millionenfache Tötung von Menschen erdacht, geplant, organisiert, verwaltet wurde.

 

Als Bundestagspräsident und Stiftungsvorsitzender war ich Bauherr dieses wahrlich großflächigen Denkmals für die ermordeten Juden Europas – mit seinem eindrucksvollen Stelenfeld und mit dem Ort der Information. Die hohen Besucherzahlen, die breite Akzeptanz des Denkmals in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor belegen eindrucksvoll, dass die Entscheidung des Bundestages richtig war. Sie hat die Erinnerungskultur in unserem Land wesentlich bereichert. Ich habe manches Staatsoberhaupt durch diesen Erinnerungsort geführt, auch den israelischen Staatspräsidenten. Und ich habe mit Menschen gesprochen, die zu den heftigsten Kritikern dieses Denkmals gehörten – sehr prominente Leute –, die inzwischen sagen: „Wir haben uns geirrt. Ihr hattet Recht“.

 

Die zweite Entscheidung: 1999 hat die Bundesregierung – und das war angesichts der föderalen Zuständigkeit für Kulturpolitik zuvor gänzlich undenkbar – eine Nationale Gedenkstättenkonzeption entwickelt, die 2008 dann nach intensiver Diskussion novelliert wurde. Diese Gedenkstättenkonzeption ist der Versuch, mit unserer doppelten deutschen Erbschaft, dem Nationalsozialismus und der SED-Diktatur, verantwortlich umzugehen und jeder Versuchung zu widerstehen, das eine Erbe gegen das andere auszuspielen oder das eine mit Blick auf das andere zu relativieren oder zu bagatellisieren. Dafür hat der Bund die Verantwortung übernommen, mit entsprechenden finanziellen Konsequenzen: KZ-Gedenkstätten sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern werden vom Bund dauerhaft finanziell gefördert, Dauerausstellungen werden erneuert. Der Bund fördert den Um- und Ausbau der Mauer-Gedenkstätte in der Bernauer Straße in Berlin, wo ein kleiner Teil des Mauerstreifens erhalten oder ein wenig rekonstruiert worden ist. Historische Spuren nachgezeichnet werden im sogenannten Tränenpalast. Am ehemaligen Grenzübergang Bahnhof Friedrichsstraße entstand inzwischen eine informative Ausstellung zu den Folgen der deutschen Teilung. Die Liste der vom Bund im Rahmen dieser Nationalen Gedenkstättenkonzeption geförderten Erinnerungsorte ließe sich lange fortsetzen.

 

Die dritte bedeutende geschichtspolitische Entscheidung war der bis heute nicht wenig umstrittene Beschluss über den Bau eines Freiheits- und Einheitsdenkmals. Nach einigem Zögern bin ich sehr vehement dafür eingetreten. Denn ich bin der Überzeugung, wir Deutsche – wie andere Völker auch – brauchen zu unserer Selbstvergewisserung und Selbstermunterung nicht nur die Erinnerung an die katastrophale Seite unserer Geschichte, an die Verirrungen, die Verbrechen und Katastrophen, sondern wir brauchen auch den Bezug auf positive geschichtliche Entwicklungen.

 

Auch Deutschland hat eine Freiheitsgeschichte und wir haben eine erfolgreiche friedliche Revolution – das Beste, was wir Ostdeutschen mitgebracht haben in die gemeinsame deutsche Geschichte. Daran zu erinnern, kann doch nur sinnvoll sein! Dieses Mahnmal unseres historischen Glücks soll uns nicht vergessen lassen, wie kostbar und verletzlich Freiheit und Einheit sind.

 

Meine Damen und Herren,

 

aus vielfacher Erfahrung wissen wir: Jede Generation muss einen eigenen Zugang zur Geschichte und eigene Formen der Erinnerung und des Gedenkens finden. Was gestern richtig war, muss heute oder morgen nicht mehr richtig sein. Bequemlichkeit oder gar Dogmatismus sind hier genauso falsch wie in anderen Bereichen der Kultur und der Politik.

 

Wir befinden uns gegenwärtig unübersehbar in einem Generationenwechsel: Nationalsozialismus, Krieg, organisierter Völkermord sind immer weniger lebendige Erfahrungen von Zeitzeugen, sondern werden immer mehr zu Ereignissen der Geschichte. Sie wechseln von persönlicher, individuell beglaubigter Erinnerung in das durch Wissen vermittelte kollektive Gedächtnis. Was heute noch in großer Eindringlichkeit Zeitzeugen erzählen können – wie zuletzt Imre Kertéz, Zoni Weisz, Shimon Peres, Marcel Reich-Ranicki, Inge Deutschkron in den Gedenkstunden des Deutschen Bundestages am 27. Januar –, das müssen in Zukunft allein oder vor allem Gedenkstätten, Museen, Geschichtsbücher, Kunstwerke vermitteln. Für das Gelingen dieses Wandels trägt demokratische Geschichtspolitik Verantwortung.

 

Es gibt keinen Grund zu glauben, die nachwachsenden Generationen seien weniger sensibel und weniger moralisch mit Blick auf die Geschichte. Das wäre ein Misstrauen, das mit dem Altwerden zu tun hat. Wir müssen vielmehr zulassen, wir müssen ermuntern und Angebote machen, dass die nachfolgenden Generationen ihren Weg finden, mit einer unbequemen Last zu Rande zu kommen und diese nicht beiseite zu schieben. Und ich wiederhole meine Eingangsthese: Historische Aufklärung ist kein Selbstzweck, sie ist notwendig um der Zukunft unserer Demokratie willen. Unsere Gesellschaft ist angewiesen auf „nachwachsende“ Demokraten – gerade auch mit Blick auf das, was wir gewöhnlich Politikverdrossenheit nennen. Und sie ist (auch) angewiesen auf den sozialen Zusammenhalt, den kulturellen Zusammenhalt, der erst durch gemeinsames Erinnern, durch das kollektive Gedächtnis ermöglicht wird.

 

Wie oft haben wir darüber debattiert, was unsere so vielgestaltige, widersprüchliche Gesellschaft zusammenhalten kann: Respekt vor Recht und Gesetz, vor unserer Verfassung, gewiss. Auch das Beziehungsgeflecht, das die Gesellschaftsmitglieder über den Arbeitsprozess und die Arbeit knüpfen, trägt dazu bei. Aber darüber hinaus bedarf es doch grundlegender Gemeinsamkeiten in den Überzeugungen, Maßstäben, Werten (vor allem in den Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenwürde, Toleranz …) und nicht zuletzt in dem, woran wir uns als Gesellschaft, als Volk erinnern!

 

In diesem Sinne kann und soll historische Aufklärung moralisches und politisches Bewusstsein schaffen. Das Entsetzliche der nationalsozialistischen Verbrechen und die Erfahrung kommunistischer Unfreiheit müssen allerdings so vermittelt werden, dass sie – und das ist mehr als Wissen – mit dem Herzen erfahren und begriffen werden und auch künftig zur Empathie mit den Opfern führen. Insofern ist Gedenken immer mehr als rationales Wissen.

 

Besonders jungen Menschen sollten wir historisches Wissen so vermitteln, dass sie eine Beziehung zur Gegenwart herstellen können. Es geht nicht um die Übertragung von Schuld und von Schuldgefühlen, sondern darum, moralische Sensibilität und politische Verantwortung für die Gegenwart zu vermitteln. Betroffenheit, die bloß ratlos macht, Wissen, das folgenlos bleibt – solcherart Ergebnisse von Erinnerungsarbeit sind nicht menschengemäß. Sie sind auch gesellschaftlich wirkungslos, im schlimmsten Falle sogar kontraproduktiv.

 

Meine Damen und Herren,

 

Diktaturen – so ein alter Lehrsatz – bekämpft man am besten, bevor sie sich etablieren können. Das ist eine doppelte Erfahrung aus dem 20. Jahrhundert, eine Erfahrung, die Eingang in die bundesdeutsche Verfassung gefunden hat. Die Demokratie, diese ebenso kostbare wie fragile Errungenschaft, verteidigt man am erfolgreichsten, solange sie noch nicht in ihren Grundfesten erschüttert ist. Wilhelm Hennis, einer der Altmeister der politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, hat diesen Zusammenhang, denke ich, gut beschrieben: „Kein Regierungssystem ist so sehr von seinen äußeren Bedingungen abhängig wie das parlamentarische. Es ist die Luxusausgabe der Regierungsformen, von allen das anspruchsvollste. So wie es am leichtesten für Krisen anfällig ist, so ist es unter günstigen Voraussetzungen von allen das leistungsfähigste.“

 

Dieser Einschätzung ist wohl kaum zu widersprechen, doch ich bin mir nicht sicher, ob dies wirklich allen bewusst ist. Jedenfalls finde ich, dass zu viele Jüngere wie Ältere die parlamentarische Demokratie als etwas schlicht Gegebenes nehmen, gar auf Dauer Gesichertes, als ein technisches Regelwerk, das sich von selbst bewegt. Sie missverstehen die Demokratie als eine Staatsform, in der man gut leben kann – das ist ja richtig –, für die man aber selbst nichts tun müsse. Ein fataler Irrtum! In dieser Konsumentenhaltung liegt eine Gefahr.

 

Gerade eine Gesellschaft, in der sich die Bürgerinnen und Bürger der Rechtsstaatlichkeit, der Freiheit, der Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte relativ sicher sein können, darf nicht bequem und erst recht nicht blind werden. Gerade für sie ist Wachsamkeit gegenüber jeder Form antidemokratischen Denkens und Handels unerlässlich.

 

Die Demokratie ist, mit Oskar Negt gesprochen, „die einzige Herrschaftsform, die in ständig neuer Kraftanstrengung gelernt werden muss“. Sie ist wie keine andere Staatsform auf Engagement, auf aktive uneigennützige Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen – nämlich immer dann, wenn es um öffentliche Angelegenheiten geht, die nicht unmittelbar das Eigeninteresse, aber das der Allgemeinheit betreffen. Sie kann nur so lange bestehen, wie neben den vielen Einzelinteressen, das gemeinsame Interesse an ihrem Bestand vital bleibt.

 

Was passiert, wenn sich Unzufriedenheit mit Demokratieverachtung paart, wenn gesellschaftliche Eliten und wirtschaftliche Verlierer sich zu einer Abkehr vom „System“ verbinden, hat das Ende der Weimarer Republik gezeigt. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt: Das Potenzial für autoritäre, rassistische, minderheitenfeindliche und antidemokratische Haltungen ist in allen Demokratien vorhanden. Und es nimmt zu, wenn wirtschaftliche Modernisierungsschübe oder Krisen, insbesondere soziale Krisen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. Es gibt einen fundamentalen, geradezu existenziellen Zusammenhang zwischen der Demokratie als politische Form der Freiheit und der Erfahrung von Gerechtigkeit. Wenn eine hinreichend große Zahl von Menschen die Gesellschaft als zutiefst ungerecht erlebt, in ihren sozialen Ängsten bestätigt wird, nimmt die Zustimmung zur Demokratie und ihren Müheseligkeiten ab. (Man blicke nur auf Protest und Wut in den südeuropäischen Ländern heute und die Erschütterungen der Demokratie in diesen Ländern.)

 

Erinnern wir uns an die Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Dem Nationalsozialismus gingen Massenelend und massive Ungerechtigkeit voraus. Und auch die kommunistische Ideologie, das kommunistische System beruhen auf der Erfahrung von Ungerechtigkeit und Massenelend. Gerade weil ich das Freiheitspathos unseres Bundespräsidenten Joachim Gauck teile, erinnere ich daran: Es gibt diesen fundamentalen Zusammenhang von Gerechtigkeit und gelingender Demokratie. Gerechtigkeitspolitik ist Zentrum demokratischer Politik, um der Demokratie und der Freiheit Willen, obwohl und gerade weil Freiheit und Gerechtigkeit nicht identisch sind – das weiß ich auch.

 

Meine Damen und Herren,

 

der Rechtsextremismus in Deutschland hat seit den 1990er Jahren sein Gesicht verändert. Er hat sich – auch wenn das Wort hier etwas unangemessen klingt, man muss es aber trotzdem verwenden – in bestimmter Weise modernisiert. Er ködert seinen Nachwuchs zunehmend über kommunalpolitisches Engagement und auch über Freizeitaktivitäten für junge Leute. Die NPD macht sich die vorhandene Ungeduld und Unzufriedenheit mit dem Tempo der Politik und deren mitunter als unzureichend empfundenen Lösungskompetenz angesichts der angstvoll oder wütend erlebten ökonomischen Problemfülle und des sozialen Drucks zu eigen. Sie erweckt ein diffuses Bedürfnis nach Erlösung von all diesen lastenden Problemen – und bietet sich mit ihrer demagogisch verquasten Heilslehre zugleich als Erlösungsinstanz an. Das ist nichts Neues, aber es erscheint in neuer, beinahe schon alltäglich gewordener Gestalt.

 

Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin häufig in Mecklenburg-Vorpommern, in Sachsen, Thüringen und anderswo gewesen, in kleinen und mittleren Städten. Bei all ihren Versuchen, den Staat vorzuführen, missbraucht die NPD die Strukturen der Demokratie und ihre Institutionen. Denn wie anders soll man es nennen, wenn eine Partei permanent und gezielt Rechtsstaatsverletzungen begeht und zugleich Steuermittel in erheblicher Höhe kassiert – und das ganz legal?

 

Für mich bleibt es obszön und schlicht unerträglich, dass die NPD ihren Kampf gegen unsere freiheitlich demokratische Ordnung mit staatlichen Geldern führen kann. Allein 2012 erhielt sie aus Mitteln der staatlichen Parteienfinanzierung 1,4 Millionen Euro. Hier muss sich die Demokratie wehren! Das ist für mich das Hauptmotiv, warum ich für ein Verbot der NPD bin. Ein solches Verbot wäre ein klarer Hinweis auf die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie!

 

Damit Sie mich nicht missverstehen: Natürlich weiß ich, dass es mit einem Parteienverbot allein nicht getan ist. Braune Gesinnung, also demokratiefeindliche, minderheitenfeindliche, antisemitische, rassistische Einstellungen in Köpfen und Herzen sind nicht durch ein Parteienverbot zu überwinden. Der Kampf gegen diese Ideologien, gegen diese Einstellungen darf nicht allein dem Staat und seinen Institutionen überlassen bleiben. Auch das ist eine Erfahrung aus dem Scheitern der Weimarer Republik. Und es ist auch zugleich eine Lehre aus der Mordserie der Zwickauer Terrorzelle. Der Verfassungsschutz und die Polizeibehörden haben auf entsetzliche Weise versagt. Was da genau passiert ist, das wird untersucht, erst dann wird man konkrete Schuldzuweisungen formulieren können und angemessene, richtige Konsequenzen ziehen. Ich hoffe beinahe, dass es nur „technische oder organisatorische“ Mängel waren. Ich fürchte, das war es nicht allein! Wir brauchen funktionsfähige staatliche Institutionen, das steht außer Frage. Hier wird jetzt – hoffentlich – kräftig nachgearbeitet und mit Hilfe der Untersuchungsausschüsse werden Konsequenzen zu formulieren sein. Aber wir brauchen vor allem auch eine starke Zivilgesellschaft, die die Menschen immun macht gegen Extremismus jeglicher Art. Der Kampf um die Herzen und Köpfe von Menschen ist notwendiger denn je. Er ist mühselig und er ist ganz alltäglicher Natur. Das ist eine Herausforderung für uns Demokraten und insbesondere für all jene, die Verantwortung in unserer Gesellschaft tragen, die in irgendeiner Weise Vorbildfunktion haben – ob in der Politik, in den Medien, in der Wirtschaft, im Sport, in den Schulen, in den Familien.

 

Die verspätete Anteilnahme am Leid der Angehörigen der NSU-Opfer und das gemeinsame Gedenken dürfen nicht folgenlos bleiben! Denn wie ist es im Normalfall? Wir erleben regelmäßig öffentliche Erschütterung, Entrüstung, Empörung, wenn sich etwas Schreckliches ereignet hat. Aber allzu oft erfahren wir leider auch, dass das öffentliche Interesse, die breite Aufmerksamkeit nach kurzer Zeit wieder erlischt. Diese Zyklen medialer und politischer Konjunktur gilt es zu durchbrechen, denn das Problem des Rechtsextremismus ist kein punktuelles, sondern offensichtlich ein dauerhaftes. Belege hierfür gibt es zuhauf. Viel zu viele!

 

In den vergangenen zehn Jahren habe ich immer wieder die Studie „Deutsche Zustände“, eine Untersuchung des Bielefelder Forschers Wilhelm Heitmeyer und seines Kollektivs, in Berlin vorgestellt. Über zehn Jahre hin hat er beobachtet, dass es in Deutschland eine „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, also ein ganzes Syndrom „minderheitenfeindliche Einstellungen“ gibt – und zwar nicht irgendwo am Rande der Gesellschaft, sondern in der Mitte: Je nachdem, zwischen zehn und zwanzig Prozent der Deutschen sind entweder ausländerfeindlich oder arbeitslosenfeindlich oder homosexuellenfeindlich. Sie haben antisemitische, rassistische Einstellungen, bewahren autoritäre Einstellungen.

 

Vor einem Jahr haben wir in Berlin den ersten Antisemitismus-Bericht vorgestellt, mit der bestürzenden Auskunft, es gebe bei etwa zwanzig Prozent der Deutschen latenten Antisemitismus. Das heißt nicht, dass das aktive, gewaltbereite Antisemiten wären. Aber der Befund ist bestürzend, dass es bei einem Fünftel der Deutschen Vorurteile unterschiedlicher Intensität gegenüber Juden gibt. Sie können sich nicht vorstellen, was für Schmähbriefe ich nach der Vorstellung des Berichts bekommen habe – häufig mit Namen und Absender. Wie zur Bestätigung dieses Befundes.

 

Die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus, zu einem guten Teil in der damaligen rot-grünen Bundesregierungszeit formuliert und etabliert, haben in den letzten elf, zwölf Jahren durchaus dazu beigetragen, dass wir in Deutschland heute eine bunte und lebendige Landschaft von Initiativen und Projekten für eine demokratische Kultur haben. Diese Strukturen gilt es zu erhalten und auszubauen. Ob der geplante Aufbau eines bundesweiten zentralen Informations- und Kompetenzzentrums gegen Rechtsextremismus, also einer weiteren staatlichen Einrichtung zur Verwaltung zivilgesellschaftlichen Engagements, einen Fortschritt bringt, weiß ich nicht. Ich hoffe es. Aber vor allem, das ist meine Überzeugung, sollte es darum gehen, die von Rechtsextremen geschaffenen Angsträume vor Ort zu bekämpfen – nicht an Verwaltungsschreibtischen.

 

Deshalb brauchen wir, erstens, eine Verstetigung der Projektförderung, um angesammelte Kompetenz, Erfahrung, Expertise nicht am Ende jeder Förderphase versanden zu lassen.

 

Zweitens brauchen wir weiterhin die Mobilen Beratungsteams, die sich in der flexiblen und raschen Krisenintervention bewährt haben.

 

Wir brauchen ebenso, drittens, erleichterte Regelungen bei der Co-Finanzierung von Demokratieprojekten und Initiativen, damit die Unterstützung nicht an der Finanznot gerade auch ostdeutscher Kommunen scheitert.

 

Viertens brauchen wir eine größere Selbstständigkeit der Initiativen bei der Antragstellung, da sie teilweise vom Willen oder Unwillen ihrer Kommunen abhängig sind. Es gibt nicht wenige Kommunalpolitiker und Bürgermeister, die einfach behaupten: „Wir haben kein Problem. Warum sollte ich irgendetwas unterstützen und finanzieren?“ Auch da könnte ich geradezu entsetzliche Beispiele erzählen.

 

Und fünftens: Nicht minder wichtig ist ein Klima des Vertrauens. Die von der schwarz-gelben Bundesregierung eingeführte „Extremismusklausel“ mit der Forderung, dass all jene Initiativen und Projektgruppen, die Unterstützung beantragen, eine Erklärung über ihre Verfassungstreue unterschreiben müssen, mutet engagierten Menschen wie ein Bekenntniszwang an und ist in einer bestimmten Art und Weise auch eine Art von Gesinnungsprüfung. Ich glaube nicht, dass das hilfreich ist. Demokratie lebt von Vertrauen. Vertrauen kann aber enttäuscht werden. Deswegen ist es sinnvoll, solche Projekte immer auch zu evaluieren, ob sie effektive Arbeit leisten. Aber es geht nicht an, ihnen entgegenzuhalten, sie könnten ja eventuell linksextrem sein, eben weil sie gegen rechts außen, gegen Rassismus antreten.

 

Und sechstens: Wir brauchen endlich auch eine kontinuierliche wissenschaftliche Untersuchung und Berichterstattung über rechtsextreme Einstellungen und Aktivitäten in Deutschland, in der Weise, wie sie der Bundestag 2008 für den Bereich des Antisemitismus bereits initiiert hat.

 

Unser Parlament, der Bundestag, – das ist mein Wunsch – sollte in jeder Legislaturperiode mindestens einmal in einer großen Debatte den Zustand der Gesellschaft und Strategien gegen Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus diskutieren. Dazu sollte die Bundesregierung jeweils einen Bericht vorlegen. So könnte eine dauerhafte und fundierte Auseinandersetzung durch Parlament und Regierung mit dieser antidemokratischen Gefahr etabliert werden. Die inzwischen immer blasser werdenden Vokabeln Kontinuität und Nachhaltigkeit könnten und sollten gerade bei dieser politisch-moralischen Herausforderung Kraft und demokratische Farbe gewinnen.

 

Meine Damen und Herren,

 

wenn wir über angemessene Formen des Erinnerns nachdenken, geht es nicht um Fixierungen auf die Vergangenheit, sondern darum, die Gefährdungen von Demokratie und Humanität, die Mechanismen von Stigmatisierung und Ausgrenzung, die Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungen von Intoleranz und Rassenwahn zu begreifen und ihnen zu begegnen. Und es geht darum, mit diesem Wissen und Empfinden die Gegenwart zu beobachten und in ihr zu handeln. Hannah Arendt sagte: „Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen, was sich daraus für heute ergibt.“

 

Diesen Gedanken greift die Woche der Brüderlichkeit mit ihrem Jahresmotto auf: „Sachor: Der Zukunft ein Gedächtnis“! Allen, die sich an den Gesprächen, Diskussionen, Veranstaltungen beteiligen, ein herzliches Dankeschön!

 

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Festvortrag gehalten am 10. März 2013 im Musiksaal des Hessischen Landtags in Wiesbaden.)