In der 232. Sitzung des Deutschen Bundestages am Freitag, den 22. März 2013 zum Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur (Drucksache 17/12115):
„Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erlaube
mir trotzdem eine Bemerkung: Es bleibt ein bedauerlicher
Umstand, dass während der Worte der Erinnerung
des Bundestagspräsidenten an den Untergang der
Weimarer Demokratie und an den Mut von Otto Wels
und anderen Sozialdemokraten kein Minister anwesend
war.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt ja
nicht! - Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Doch, eine Ministerin!
- Volker Kauder [CDU/CSU]: Frau
Wanka war anwesend!)
- Dann sage ich also: Es ist bedauerlich, dass die Bundesregierung
so gut wie gar nicht durch Minister vertreten
war. Dies bleibt ein bedauerlicher Umstand.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie können zumindest so viel Respekt erweisen, dass Sie
dieses Gefühl der sozialdemokratischen Fraktion und der
anderen Fraktionen der Opposition entgegennehmen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nachkarten!)
Meine Damen und Herren, die Regierungsfraktionen
haben in ihrem Koalitionsvertrag einen Bericht der Bundesregierung
zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur
angekündigt; jetzt liegt er endlich vor. Diese Aufarbeitung
- das will ich betonen - bleibt eine wichtige
gesellschaftliche Herausforderung, auch 23 Jahre nach
dem Ende der DDR. Sie gehört zum verpflichtenden
Erbe der friedlichen Revolution. Ein Schlussstrich ist
weder möglich noch überhaupt sinnvoll.
Der Titel des Berichts lässt Großes erwarten, Antworten
auf grundsätzliche Fragen: Welche Aufgaben hat die
Politik zur Aufarbeitung der SED-Diktatur übernommen?
Was wurde erreicht? Was bleibt zu tun? - Zunächst
einmal ist Erfreuliches zu berichten: Es passiert
wirklich viel. Es ist in den vergangenen 23 Jahren eine
vielfältige Aufarbeitungslandschaft - wie man das nennt -
entstanden: Unzählige Forschungsarbeiten wurden publiziert.
Gedenkorte und Museen tragen zur Aufklärung
über die SED-Diktatur bei. Hier hat der Bund, Bundesregierung
und Bundestag, bei der Unterstützung und
Finanzierung viel geleistet. Ebenso viele ehrenamtliche
und private Initiativen sind aktiv. Aufarbeitung - das
wird deutlich - ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe im
weiten und vernünftigen Sinn dieses Wortes, die in ihrer
ganzen Breite nur gelingt, weil engagierte Bürgerinnen
und Bürger sich dafür einsetzen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des
Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/
CSU])
Detailliert zählt der Bericht Gedenkstätten und Mahnmale,
Initiativen und Einrichtungen auf. Er leuchtet viele
Aspekte der Aufarbeitung aus, von der Rehabilitierungsgesetzgebung,
der Wiedergutmachung über Archive und
Forschung bis hin zu Bildungsprojekten. Er bildet das
breite Spektrum der Gruppen ab, für die Aufklärung und
Aufarbeitung von besonderer Bedeutung sind, nicht nur
im Bund, sondern auch in den Ländern. Man wird immer
auch sagen können - ich weiß das von mancherlei Auslandsreisen
-, dass Deutschland hier durchaus vorbildlich
mit der Hinterlassenschaft einer Diktatur oder, wenn
man so will, sogar zweier Diktaturen umgeht. All dies ist
lobenswert. Jedem, der sich einen Überblick über bestehende
Einrichtungen verschaffen will, sei der Bericht
deshalb empfohlen, auch wenn die Gewichtungen nicht
immer stimmen: Man hat gelegentlich den Eindruck,
dass die Berichte der aufgeforderten Institutionen einfach
zusammengeheftet worden sind.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Da wird ja gar kein Hehl draus gemacht!)
Diesem Bericht fehlt - so bewerte ich es nach meiner
Lektüre - etwas Entscheidendes, leider: Dieser Bericht
kennt und nennt keine Kriterien, um den Stand der Aufarbeitung
zu bewerten. Aktuelle und länger bekannte
Probleme blenden Sie einfach aus. Doch Probleme zu
ignorieren, bringt keine Lösung; das wissen Sie, und das
zeigen die vergangenen vier Jahre Ihrer Regierungszeit.
Ich will zwei Beispiele nennen; das eine betrifft die
Rehabilitierung von Haftopfern, das andere die Entwicklung
der Stasiunterlagenbehörde.
Kürzlich traf ich mich mit Frauen des Süddeutschen
Freundeskreises -Hoheneckerinnen-, eines Zusammenschlusses
ehemaliger politischer Häftlinge - eine sehr
beeindruckende, mich bewegende Begegnung. Diese
Frauen erzählten mir von ihren Erlebnissen. Im Gefängnis
Hoheneck erfuhren sie die ganze Härte des Unrechts,
dessen der Justizapparat der DDR fähig war. Die Haft
wirkt bis heute nach; die Frauen leiden unter schlimmen
Spätfolgen, unter schweren Traumata, Schlafstörungen
und physischen Folgeerscheinungen, die behandelt werden
müssen.
Diese Frauen haben einen Forderungskatalog aufgestellt.
Eine der Forderungen lautet: Sie wollen für ihre
Rehabilitierung und Opferrente nicht jahrelang mit einer
Bürokratie kämpfen müssen, die ihnen mit peinlichen
Hürden zusetzt. Sie wollen nicht um jeden Cent, der ihnen
zusteht, kämpfen.
(Beifall bei der SPD)
Sie fordern deshalb eine Professionalisierung, Vereinfachung
und Vereinheitlichung des behördlichen Umgangs
mit den Opfern. Ich finde, darüber sollten wir nachdenken.
Der vorgelegte Bericht liefert dafür keinerlei nützliche
Informationen.
Auch bei der Stasiunterlagenbehörde scheint nach
diesem Bericht alles in Ordnung zu sein. Der Bericht
spart die zentrale Frage völlig aus: Wie geht es weiter
mit dieser Behörde und ihren Aufgaben? Der Staatsminister
für Kultur und Medien sagt dazu nichts, während
sich öffentlich besorgte Stimmen mehren: Kommt
die Behörde ihrem eigentlichen Hauptauftrag angemessen
nach, nämlich Bürgerinnen und Bürgern Einsicht in
ihre Akten zu gewähren? Reagieren Politik und Behörden
angemessen und rechtzeitig auf die Veränderungen,
die mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Gegenstand
der DDR-Geschichte für Aufklärung und Aufarbeitung
entstehen?
Der jüngst vorgelegte 11. Tätigkeitsbericht des Beauftragten
für die Stasiunterlagen ist da sehr deutlich. Dezidiert
beklagt er personelle Schwierigkeiten bei der Aktenbereitstellung.
Die Wartezeiten für Antragsteller
verlängern sich. Das ist nicht akzeptabel, und da läuft
doch etwas falsch. Im Bericht findet sich dazu nichts.
Das Personalproblem aber ist nicht isoliert zu sehen.
Der gegenwärtige Bundesbeauftragte, Roland Jahn, legte
kürzlich erste Pläne vor, den einstigen Sitz der Stasizentrale
in der Normannenstraße zu einem „Campus der Demokratie“
umzugestalten. Er forderte richtigerweise eine
öffentliche Debatte darüber. Diese Debatte versagt ihm
die Regierungskoalition.
(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das stimmt doch
überhaupt nicht! Das ist doch albern!)
Das entsprechende Debattengremium, eine Expertenkommission,
die die Koalition für diese Legislaturperiode
angekündigt hatte, ist bis heute nicht eingesetzt.
(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Wir haben
doch schon gehandelt bis 2019! - Patrick
Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Vor einem Jahr haben
Sie genau das Gegenteil behauptet!)
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich fordere
Sie auf: Setzen Sie diese Kommission endlich ein!
Sie muss Vorschläge erarbeiten und öffentlich diskutieren,
wie und in welcher Form die verschiedenen Aufgaben
dieser Behörde mittel- und langfristig zu erfüllen
sind. Darum geht es.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Dies haben Sie schließlich selbst in Ihrem Koalitionsvertrag
festgelegt. Dies steht auch in der Gedenkstättenkonzeption
des Bundes, auf die Sie sich beziehen.
Nur nebenbei: Wenn ich in dem Bericht lese, alle in
der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption beschlossenen
Maßnahmen wurden - wörtlich - "erfolgreich
umgesetzt oder befinden sich in der Schlussphase
ihrer Realisierung", dann trifft dies eben auf dieses
Thema gewiss nicht zu.
Die Debatte über die Zukunft der BStU ist aber unbedingt
zu führen, und sie ist jetzt zu führen. Die Idee des
"Campus der Demokratie" führt nämlich nach meiner
Überzeugung in die Irre. Es ist ein Irrtum, zu glauben,
die bloße Anschauung der Diktatur bringe Demokraten
hervor.
(Zuruf von der FDP: Das hat er auch nicht
behauptet!)
Dies geschieht ebenso wenig, wie die Betrachtung des
Lasters die Tugend mehrt, um hier Richard Schröder zu
zitieren.
(Beifall bei der SPD)
Der Titel ist nicht der entscheidende Punkt. Viel
wichtiger noch ist: Die Idee des "Campus der Demokratie"
beinhaltet grundlegende und langfristige Weichenstellungen
weg von der zentralen Aufgabe der Gewährung
von Akteneinsicht und hin zur Etablierung der
Stasiunterlagenbehörde als dauerhafter Bildungseinrichtung.
Die Frage ist aber doch: Wollen und brauchen wir
genau dies? Das sollte uns beschäftigen, gerade auch mit
Blick auf die anderen politischen Bildungseinrichtungen
im Lande und auf die vielfältige Landschaft der Aufarbeitung.
Indem die Regierungskoalition schweigt statt zu handeln,
stiehlt sie sich - das meine ich schon ernst - aus ihrer
politischen Verantwortung. Sie verschleppt die notwendige
Diskussion zur Perspektive der BStU,
(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Das ist
doch völliger Quatsch!)
sie missachtet die Gestaltungspflicht und Gestaltungsfreiheit
des Parlaments.
(Beifall bei der SPD)
Dieses Vakuum kann der Behördenleiter nicht adäquat
füllen.
Die BStU-Behörde war und ist aus gutem Grunde
eine Institution des Bundestages, über deren Zuschnitt
und Aufgaben sich das Parlament zu verständigen hat.
Weil strukturelle Veränderungen der Behörde notwendigerweise
auch personelle Konsequenzen nach sich ziehen,
lassen sich langfristige Planungen einerseits und der
Umgang mit heute auftretenden personellen Problemen
andererseits nicht voneinander isolieren.
(Beifall bei der SPD - Burkhardt Müller-
Sönksen [FDP]: Das ist richtig!)
Die Untätigkeit der Regierungskoalition im Bundestag
führt zu einer weiteren Schieflage, nämlich zur Verunsicherung
in der Öffentlichkeit. Wer es wagt, öffentlich
die Tatsache auszusprechen, dass die Behörde des
Beauftragten für die Stasiunterlagen vor über 20 Jahren
- ich war dabei, als wir sie gefordert und erfunden haben
- aus guten Gründen als befristetes, also endliches
Projekt geplant war, wer daran erinnert, dass sie eine
Ausnahmeinstitution in unserem Rechtsstaat ist, der
setzt sich dem Vorwurf aus, die BStU-Behörde zerschlagen
und die SED- und Stasiaufarbeitung in toto beenden
und einen Schlussstrich ziehen zu wollen. Das Gegenteil
ist der Fall. Jedenfalls ist das ganz und gar nicht meine
Absicht.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das haben Sie aber
vor vier Jahren ganz anders gesagt!)
- Nein; im Unterschied zu Ihnen, Kollege Vaatz.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ich habe immer
dasselbe gesagt!)
Ich erinnere mich noch sehr gut an Vorschläge aus Ihren
Reihen, bestimmte Dinge zu beenden.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ja, natürlich!)
Die BStU-Behörde leistet - ich betone es noch einmal -
wichtige Arbeit und verfügt zu Recht über hohes Ansehen.
(Beifall bei der SPD und der FDP)
Damit dies in Zukunft so bleibt, müssen wir sie weiterentwickeln.
Ich will vier Dinge nennen, über deren zukünftige
Verwirklichung wir diskutieren müssen:
Erstens. Die Stasiüberprüfungen werden im Jahr 2019
enden. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer ist es weder
politisch noch menschlich angemessen, dass dann weit
zurückliegende Stasiverwicklungen noch ein Hinderungsgrund
für Anstellungen und Berufungen darstellen
sollen.
Zweitens wird der Bedarf schwinden, eine behördeneigene
Spezialforschung zu unterhalten. Sukzessive erschließt
die Behörde ihre Archivbestände mit dem Ziel,
externen Wissenschaftlern den Zugang zu den Akten zu
erleichtern. Über kurz oder lang werden deshalb einschlägige
zeitgeschichtliche Institute diese Forschungen
weiterführen können.
Bei allen Veränderungen muss drittens die Möglichkeit
der Akteneinsicht für Betroffene unbedingt erhalten
bleiben. Diese Kernaufgabe ist dauerhaft sicherzustellen,
auch für die Zeit nach 2019. Der Aktenzugang bleibt für
die Aufarbeitung elementar, auch wenn das Stasiarchiv,
in welcher Weise auch immer, dem Bundesarchiv angegliedert
werden sollte.
Viertens. Auch die historische und politische Aufarbeitung
wird selbstverständlich nicht abgeschlossen
sein. Allerdings ist ernsthaft darüber nachzudenken, welche
der bestehenden Einrichtungen diese Aufgabe übernehmen
können. Ich denke an die Bundesstiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur oder die Bundeszentrale
und die Landeszentralen für politische Bildung. Der Bericht
der Bundesregierung breitet übrigens die ganze
Fülle der bereits existierenden kompetenten Einrichtungen
sehr schön aus.
Über all diese Punkte müssen wir sprechen. Doch anstatt
Fachleute und Interessierte einzuladen und zur Diskussion
zu ermuntern, damit in diesen Fragen ein öffentlicher
Konsens erreicht wird, herrscht koalitionäres
Schweigen. Wir brauchen eine grundsätzliche Debatte
über Zuschnitt, Qualität und Zukunft der Aufarbeitung
und nicht eine Tabuisierung einer solchen Debatte. Sonst
verlieren wir uns in kleinteiligen finanziellen Verteilungskämpfen.
Der Bericht der Bundesregierung ist dafür
nur begrenzt hilfreich.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.“
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)