Die Amadeu Antonio Stiftung, die Freudenberg Stiftung und die Sebastian Cobler Stiftung haben am 9. November 2012 zum sechsten Mal den Sächsischen Förderpreis für Demokratie verliehen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Neonazis, die aufmarschieren und offen ihre menschen-verachtenden Parolen grölen, Asylbewerberheime, die so marode sind, dass dort Ungeziefer und Kakerlaken nisten – es gibt viele Menschen, die darauf spontan antworten: Nein, das wollen wir nicht. Da müsste man doch etwas machen. Aber es gibt nicht so viele, die den Worten Taten folgen lassen.
Der Sächsische Förderpreis würdigt Projekte, Initiativen und Menschen, die genau das tun: Verantwortung übernehmen und handeln - dort wo es nötig ist. Die zusammenstehen und sich aktiv für Demokratie, für den Erhalt und die Stärkung der Menschenrechte und für Minderheiten einsetzen. Die all-täglichen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus vor Ort bekämpfen.
Die Amadeu Antonio Stiftung, die Freudenberg Stiftung und die Sebastian Cobler Stiftung vergeben den Sächsischen Förderpreis gemeinsam und würdigen so herausragendes Engagement. Heute zum sechsten Mal und das am 9. November...
In meiner Amtszeit als Bundestagspräsident habe ich von 1998 bis 2005 eine Vielzahl von Reisen unternommen, die mich in die Hochburgen rechter Gewalt, in Landstriche mit einer rechtsradikalen Alltagskultur, geführt haben. Im Vorfeld der Reisen hatte ich mir nicht vorstellen können, was mir begegnen würde. Natürlich war ich mir des Problems Rechtsradikalismus bewusst, kannte Zahlen und Berichte über rassistisch motivierte Gewalttaten. Doch es ist ein Unterschied, etwas abstrakt zu wissen oder das Ausmaß der Angst und Hilflosigkeit vor Ort zu erleben, erzählt von Jugendlichen, die sich nicht auf die Straße trauen, weil sie sonst verprügelt werden.
Erschreckt hat mich neben dem puren Ausmaß des neonazistischen Treibens vor allem die Unkultur des Verschweigens. Ich hätte zuvor nicht geglaubt, dass Polizisten, Vertreter der Stadtverwaltung und Kommunalpolitik in vielen Fällen einfach wegsehen und die untragbaren Zustände verschweigen oder kleinreden.
Im Zuge meiner Reisen war ich auch mehrfach in Leipzig und Dresden, den beiden Städten, aus denen die heutigen Preisträger stammen.
Beide Initiativen - das Bündnis „Nazifrei! Dresden stellt sich quer“ und der Initiativkreis „Menschen.Würdig“ aus Leipzig – engagieren sich in beispielhafter Weise für demokratisches Miteinander und gegen Ausgrenzung und Rassismus.
Das Bündnis „Nazifrei. Dresden stellt sich quer“ war die Antwort der Zivilgesellschaft auf den jährlichen Aufmarsch von Neonazis in der Elbmetropole im Umfeld des Jahrestages der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945.
Nachdem im Februar 2009 rund 7.000 Neonazis durch die Dresdner Innenstadt marschiert waren, formierte sich das Bündnis. Der für Februar 2010 geplante Nazi-Aufmarsch sollte unbedingt verhindert werden – durch entschlossenes und solidarisches Handeln.
Engagierte Demokraten, Vertreter von Gewerkschaften, von Parteien, von Kirchen und privaten Initiativen stellten sich im Februar 2010 den Neonazis couragiert in den Weg und blockierten deren Aufmarschroute. Sie weigerten sich, den erklärten Feinden der Demokratie den öffentlichen Raum, die öffentlichen Straßen und Plätze zu überlassen. Es war ein kalkulierbarer kollektiver Regelverstoß, der durch das Grundgesetz geschützt ist. Die Dresdner Behörden leiteten Verfahren gegen 200 Blockierer ein, die sich der „Störung eines öffentlichen Aufzugs“, mithin des zivilen Ungehorsams schuldig gemacht hatten. Hausdurchsuchungen, Gerichtsverfahren, Strafgelder waren die Folge.
Das Bündnis war damit einen Schritt weiter gegangen als die „AG 13. Februar“, die mit einer Menschenkette von mehreren tausend Personen ein beeindruckendes symbolisches Zeichen gegen die Neonazis setzte. Viele derer, die sich an der Menschenkette beteiligt hatten, unterstützten danach auch die Blockadeaktion.
Trotz aller Repressionsversuche und mancher medialer Anfeindungen blieb das Bündnis bestehen. Es erhielt Zulauf und erreichte einen breiten öffentlichen Diskurs über die Legitimität von Blockaden und zivilem Ungehorsam. Und das Bündnis zeigte, dass die Zivilgesellschaft sich friedlich und wirkungsvoll wehren kann – gegen die Feinde der Demokratie. Dies ist eine wichtige politische Botschaft, die über Dresden hinaus wahrgenommen wurde.
Auch im Februar 2011 gelang es, einen Aufmarsch der Neonazis zu verhindern. In vielen Fällen gelangten die Neonazis nicht einmal zu ihrem Versammlungsort. Gleichwohl bot sich in der Dresdner Innenstadt ein eigentümliches Bild. Die Innenstadt war weiträumig abgesperrt, das Demonstrationsrecht der einen (der Neonazis) wurde geschützt, das der anderen, der Gegendemonstranten, beschnitten. Ich war damals in Dresden, um Mahnwachen der Gewerkschaften und der Kirchen zu besuchen, und musste erleben, dass beispielsweise eine DGB-Mahnwache vor dem Volkshaus, also weit weg von jeder möglichen Konfrontation, von den Behörden verboten worden war. Dabei gehört zum Demonstrationsrecht der Demokraten, dass sie in Sicht- und Hörweite der Neonazis demonstrieren können müssen.
Von den Behörden (Polizei, Landeskriminalamt, Innenministerium) darf und muss verlangt werden, dass sie verhältnismäßig und angemessen agieren und reagieren – beim Einsatz polizeilicher Mittel gegen (friedliche) Demonstranten, beim Umgang mit selbstbewusst auftretenden zivilgesellschaftlichen Bündnissen und natürlich auch bei der Erhebung bzw. Speicherung von Telefon- und Personendaten. Es kann nicht verhältnismäßig sein, in die Grundrechte von zehntausenden Menschen einzugreifen, um einige wenige Gewalttäter zu ermitteln.
Und ich füge hinzu: Auch sächsische Behörden müssen sich Kritik gefallen lassen, wenn es Anlass zu massiver Kritik gibt – wie in Dresden. Das schien für manche Beamten ein schwieriger Lernprozess zu sein.
Im Februar diesen Jahres fanden sich wieder mehrere tausend Menschen zu einer Menschenkette zusammen. Anschließend blockierten rund 2000 Bürgerinnen und Bürger die 1600 Neonazis, die ihren Aufmarsch abbrechen mussten. Die Aktionen blieben friedlich – auch Dank eines neuen Deeskalationskonzepts. Ein Umdenken hatte stattgefunden: in städtischen Behörden und bei der Polizei. Die „Sächsische Demokratie“ ist lernfähig, der Zivilgesellschaft sei`s gedankt!
Das Bündnis „Nazifrei. Dresden stellt sich quer!“ hat sich für die Stärkung der demokratischen Protestkultur eingesetzt und maßgeblich dazu beigetragen, den Neonazis ein von ihnen annektiertes Kapitel deutscher Geschichte und den von ihnen besetzten öffentlichen Ort wieder zu entreißen. Das ist eine anerkennenswerte Leistung, die Mut macht und hoffentlich viele Nachahmer findet.
Unser zweiter Preisträger, der Initiativkreis „Menschen.Würdig“, lenkt unseren Blick nach Leipzig.
Im Sommer 2010 hatte der Leipziger Stadtrat beschlossen, eine Sammelunterkunft für Asylbewerber zu schließen. Grund dafür war der desolate Zustand des Hauses. Die Stadtverwaltung entwarf ein Dezentralisierungskonzept. Dieses sah vor, in verschiedenen Stadtteilen deutlich kleinere Unterkünfte entstehen zu lassen, für bis zu 40 Personen.
Einige Anwohner der zukünftigen Standorte protestierten lautstark gegen Asylbewerber in ihrer Nachbarschaft. Schlimme Vorurteile waren zu hören. Müll, Drogen und Chaos waren die Stichworte für Horrorszenarien, die Ressentiments gegen Ausländer schürten und sich in einer Mischung aus Fremdenangst, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit niederschlugen.
Mit Argumenten wie: (Zitat) „Wir haben hier 1995 gebaut und wollen, dass unsere Kinder weiter in dieser Idylle aufwachsen.“ oder "Diese Aktion ist ein Experiment und wir sollen die Versuchskaninchen sein. Das machen wir nicht mit. Was, wenn die Sache aus dem Ruder läuft?“, versuchten skeptische Anwohner das Vorhaben zu verhindern.
Für die Asylsuchenden hatten sie kein Verständnis. Viele von ihnen aber sind aus ihrer Heimat geflohen, weil sie dort mit dem Tod bedroht werden. Wie ein iranischen Paar, das vom muslimischen zum christlichen Glauben übertreten wollte. Darauf steht im Iran die Todesstrafe. In Anbetracht dieser Realität wirkt das Urteil eines Anwohners zynisch: (Zitat) „Man kann in Leipzig nur noch mit dem Kopf schütteln. Niemand hat etwas gegen diese Leute. Aber was sollen diese Leute hier? Sie sollten doch besser versuchen in ihren Ländern etwas zu ändern. Das wäre wahre Völkerverständigung.“
Als Antwort auf den Protest künftiger Anwohner entstand der Initiativkreis „Menschen.Würdig“. Ein Zusammenschluss verschiedener Gruppen und Einzelpersonen, die teilweise bereits seit Jahren mit Flüchtlingen und Asylbewerbern zusammenarbeiten. Gemeinsam setzten sie ein Zeichen der Solidarität und signalisierten den Asylsuchenden: Ihr seid hier willkommen!
Der Initiativkreis thematisiert menschenverachtende Einstellungen und Handlungen vor allem – aber nicht nur – im Verlauf der Dezentralisierungsdebatte in Leipzig. Sein erster Erfolg ist, dass das Problem endlich beim Namen genannt wird: Rassismus. Ziel des Netzwerkes ist es nun, das Konzept der Dezentralisierung zu begleiten, die Umsetzung durch die Stadt kritisch und aufmerksam zu verfolgen und zu verhindern, dass es Abstriche auf Kosten der Asylsuchenden geben wird. Ein weiteres Ziel ist es, die finanzielle Gleichstellung der Asylbewerber und Flüchtlinge durchzusetzen – momentan erhalten sie weniger als den Hartz IV-Satz.
Seit Beginn der Debatte sind zwei Jahre vergangen. Doch noch immer leben die Asylbewerber in einem Haus mit schlechter Bausubstanz und Ungeziefer. Es ist gut zu wissen, dass der Initiativkreis „Menschen.Würdig“ an der Seite der Asylbewerber steht, sich um sie kümmert und ihre Rechte verteidigt. Er hat ihnen Hoffnung gemacht und Mut, wo andere mit Ignoranz und Feindseligkeit reagierten.
Die Notwendigkeit und Bedeutung dieses Engagements kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist Zeichen und Symbol einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Diese Initiativen zu unterstützen, ist Aufgabe der Gesellschaft als Ganzes, nicht nur der von Amts wegen Zuständigen. Auch und gerade die Politik kann und darf sich dieser Aufgabe nicht entziehen.
Mit zwei Beispielen, möchte ich zeigen, wie schwer sie sich damit manchmal tut.
Die von Familienministerin Kristina Schröder eingeführte Extremismusklausel verkehrt das Vertrauen in das demokratische Engagement der Bürger ins Gegenteil und stellt sie unter den Generalverdacht der Verfassungsfeindlichkeit. Das führte dazu, dass viele Initiativen und Projekte ihr Engagement einschränken, weil sie das ihnen staatlicherseits entgegengebrachte Misstrauen nicht akzeptieren wollen. Durch die fatale Bewilligungspraxis der Bundesregierung steht zu befürchten, dass die über viele Jahre gewachsene Landschaft an Initiativen und Projekten für die Stärkung demokratischer Kultur spürbar und nachhaltig ausgedünnt wird.
Mittlerweile hat das Verwaltungsgericht Dresden (nach Klage des Pirnaer Vereins AKuBiZ) die Extremismusklausel für rechtswidrig erklärt, ein Berufungsverfahren läuft. Viele Verbände und Vereine sehen der Berufungsverhandlung interessiert entgegen; sie fordern eine Rückkehr zur politischen Auseinandersetzung. Zu Recht. Ich halte die Klausel für demokratiepolitisch fatal, sie ist kontraproduktiv und widerspricht dem Geist unserer Verfassung.
Ein anderes Beispiel zeigt, wie langsam die Mühlen der Politik oft mahlen:
Erst vor wenigen Wochen hat der Deutsche Bundestag über den Antisemitismusbericht debattiert, der schon seit November 2011 vorliegt. Der Bericht macht auf erschreckende Weise deutlich, wie tief Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft verankert sind und bis weit in ihre Mitte reichen. Doch was folgt aus diesem Befund?
Meine Forderungen sind:
1. Wir brauchen eine kontinuierliche Berichterstattung über Antisemitismus und Rechtsextremismus sowie andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
2. Notwendig ist eine Verstetigung der Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus, die momentan in Form von Modellprojekten bestehen. Denn Initiativen und Projekte können ihre Arbeit nur effektiv leisten, wenn sie die strukturellen und finanziellen Möglichkeiten dazu haben.
3. Es ist ein bedauernswerter Zustand, dass nach Schreckensmeldungen in den Medien die öffentliche Bestürzung zwar groß ist, aber selten lange anhält. Es ist ein bedauernswerter Zustand, dass engagierte Menschen Projekte aufbauen und Netzwerke installieren und kaum, dass sie begonnen haben zu arbeiten, die Förderung ausläuft. Diese Zyklen medialer Konjunktur und kurzfristigen staatlichen Engagements gilt es zu durchbrechen.
Meine Damen und Herren, mit den heute verliehenen Würdigungen wird das beispielhafte Engagement aller Preisträger anerkannt. Sie haben Zivil-courage bewiesen, haben sich für Demokratie und gegen Rassismus eingesetzt und für mehr Menschlichkeit und Solidarität geworben.
Die Preisträger machen dem Preis alle Ehre! Und wenn ich Sie und Ihr Engagement sehe, bekomme ich wieder Hoffnung für die Sächsische Demokratie!