Einen passenderen Gast hätte es im zwanzigsten Jahr der deutschen Einheit zur Eröffnung der Herbst-Reihe von „Thierse trifft...“ am 19. Oktober kaum geben können: zu Gast war Hans Otto Bräutigam, ehemaliger Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin.
Der heute 79-jährige Hans Otto Bräutigam ist ein genauer Kenner der deutsch-deutschen Beziehungen: von den Konfrontationen und Verhärtungen in der Nachkriegszeit über die Normalisierung der Beziehungen in den 70er und 80er Jahren bis hin zur Wiedervereinigung. Als wesentlichen Schritt zur Entspannung identifizierte Bräutigam die Neue Ostpolitik von Willy Brandt, die dem Leitgedanken „Wandel durch Annäherung“ folgte. An der Durchführung dieser neuen Politik war Bräutigam direkt beteiligt. In der Delegation von Egon Bahr erlebte er die Verhandlungen zum Berlin-Abkommen der vier Siegermächte (1972) und zum Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR (1973).
Doch mit Hans Otto Bräutigam traf Thierse nicht nur auf einen Gast, der die „große Politik“ begleitet hat. Denn in den 80er Jahren hatte Bräutigam als Leiter der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin auch mit den menschlichen Tragödien und den alltäglichen Brutalitäten der deutschen Teilung zu tun. Und er erlebte hier die unmittelbaren Auswirkungen und Erfolge der von Brandt eingeleiteten „Politik der kleinen Schritte“, deren Ziele vor allem die „menschlichen Erleichterungen“ und die Abmilderung der Folgen der Teilung waren.
In seiner Funktion als „Botschafter“ der Bundesrepublik in der DDR begleitete er 1987 Erich Honecker auf seinem Staatsbesuch in Westdeutschland. Auf dem Flug nach München unterhielt er sich mit Honecker, der ihm zufällig gegenüber saß. Sie konnten vom Flugzeug aus in der Ferne die Alpen erkennen. Da sagte Bräutigam zum Generalsekretär der SED ironisch-flapsig: „Wenn Deutschland denn schon geteilt ist, was ich sehr bedauere, Herr Generalsekretär, dann muss man doch feststellen, dass es nicht gerecht geteilt worden ist. Ein Stück Alpen hätten auch die Ostdeutschen bekommen müssen.“ Honecker fand das gar nicht lustig, das Gespräch war beendet.
Gewissermaßen welthistorisches Pech hatte Bräutigam 1989. Nach sieben Jahren in Ost-Berlin wechselte er nach New York, als UN-Botschafter der BRD. Nur Monate später fiel die Mauer. Hätte Bräutigam diese unvorhersehbare Entwicklung geahnt, er wäre geblieben. Jetzt kehrte er freilich rasch nach Deutschland zurück und wurde Ende 1990 Justizminister im Kabinett von Manfred Stolpe in Brandenburg, wo er unter anderem das Justizwesen neu aufbaute.
Seine Erinnerungen hat Bräutigam in einem sehr lesenswerten und gut lesbarem Buch festgehalten, das im vergangenen Jahr unter dem Titel „Ständige Vertretung. Meine Jahre in Ost-Berlin“ erschien. Wer mehr erfahren möchte, ist mit diesem Buch sehr gut beraten.